Der Fjord schweigt - Leseprobe

 

 

Prolog

Mühsam versuchte sie, ihre Tränen im Zaum zu halten, als sie seine Hand streichelte. Auch wenn er mit Sicherheit wusste, wie ihr zumute war, wollte sie sich das auf keinen Fall anmerken lassen. »Ich hab dich lieb«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

»Ich dich auch.« Er lächelte. Wie konnte er lächeln, wo praktisch der Tod an seinem Bett stand?

Sie sah sich in dem kleinen Zimmer auf der Palliativstation um. Es war spärlich möbliert, sorgte aber immerhin für eine vernünftige Privatsphäre, die es ermöglichte, sich in einem einigermaßen würdigen Rahmen zu verabschieden. Sie biss sich auf die Lippe, als ihr bei dem Gedanken schon wieder Tränen in die Augen schossen.

»Weine nicht, Annika, es ist okay.«

Wie konnte er so etwas sagen? Es war überhaupt nicht okay. Ihr Vater war noch viel zu jung, um zu sterben. Drei Jahre lang hatte er sich gegen den verdammten Krebs gewehrt und es hatte tatsächlich so ausgesehen, als würde er den Kampf gewinnen. Doch die Hoffnung hatte sie alle getrogen und einer grausamen Wahrheit Platz gemacht. Es ging zu Ende und niemand konnte ihm mehr helfen. Sie schluckte.

Langsam drehte er den Kopf. »Kerstin?«, fragte er und die schwache Stimme klang hoffnungsvoll.

Ein kurzer Schatten flog über das Gesicht der Frau an der anderen Bettseite. »Nein, mein Schatz. Ich bin es. Iris.«

»Ja, natürlich.« Er lächelte traurig. »Entschuldige.«

Sie nahm seine Hand und legte sie an ihre Wange. »Kein Problem, Schatz. Es tut mir leid, dass sie nicht hier ist.«

»Ich hatte es nicht anders erwartet.« Seine Augenlider senkten sich langsam, doch dann riss er sie gewaltsam auf. »Du musst es Annika sagen«, verlangte er mit erstaunlich kräftiger Stimme.

Vehement schüttelte Iris den Kopf. »Nein, das ist Kerstins Sache.«

»Sie wird es ihr nie erzählen.«

»Und du hast versprochen, es auch nicht zu tun.«

Annikas Blick ging zwischen den beiden hin und her. Wovon sprachen sie? Was erzählen?

»Ich habe dieses Versprechen über zwanzig Jahre lang gehalten.« Die kurz aufgeflackerte Kraft in seiner Stimme ließ nach und er schien in sich zusammenzusinken. »Aber Annika hat ein Recht, es zu erfahren.«

»Kerstin wird dich umbringen, wenn du dein Versprechen brichst.«

Er lachte. Sein Lachen wurde begleitet von einem rasselnden Geräusch, das tief aus seiner Lunge zu kommen schien und Annika durch Mark und Bein fuhr. »Da kommt sie zu spät.« Seine Mundwinkel hoben sich. »Gib ihr wenigstens den Umschlag. Du weißt, welchen. Bitte Iris, tu es. Es ist nicht gut, Geheimnisse zu haben. Du hast gesehen, was es meiner Familie angetan hat. Wir haben so viel falsch gemacht.« Er seufzte tief. Langsam, wie in Zeitlupe, wandte er sich Annika zu. »Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit. Ich wünschte, ich hätte mich früher entschlossen, dir alles zu sagen. Annika, du hast ...«

Er verstummte und schloss die Augen. Erschrocken hielt Annika den Atem an, doch dann sah sie, dass sich seine Brust gleichmäßig hob und senkte. Noch hatte er sich nicht aufgegeben, aber die Anstrengung hatte ihn ermattet in Schlaf sinken lassen.

Sie seufzte. Wie oft würde er aus einem solchen Schlaf noch erwachen, bis es endgültig zu Ende ging? Für ihn hoffte sie, dass er bald in Frieden gehen durfte, aber ihr zerriss es bei dem Gedanken das Herz immer wieder aufs Neue. Vielleicht würde es eine weitere Gelegenheit geben, zu reden. Sie hatte keine Ahnung, wovon er gesprochen hatte und was sie unbedingt erfahren sollte, aber es schien ihm sehr wichtig zu sein.

Fragend sah sie zu Iris hinüber. Doch ihre Stiefmutter beachtete sie nicht. Gedankenverloren kaute sie an ihrer Unterlippe und ihr Blick war abweisender denn je.

 

1

Heiße Tränen brannten in Annikas Augen, als sie in das dunkle Loch hinabsah, in das gerade der Sarg hinabgelassen wurde. Sie bemühte sich, nicht zu weinen, doch dann fragte sie sich, warum. Es war die Beerdigung ihres Vaters und sie hatte jedes Recht dazu. Mit einem leisen Schluchzen gab sie dem Bedürfnis nach. Fast augenblicklich legte sich ein Arm um ihre Schultern und drückte sie tröstend. Iris hatte Annika gegenüber immer eine gewisse Reserviertheit an den Tag gelegt, doch eines war unbestritten: Ihre Stiefmutter hatte ihren Vater geliebt und litt unter seinem Verlust ebenso sehr wie sie. Annika lehnte sich an sie und fühlte sich ihr so verbunden wie noch nie.

Mit einem Rumpeln setzte der dunkle Eichensarg auf dem Boden auf und sie zuckte zusammen. Trotz des sonnigen Wetters fröstelte sie. Sie hatte schon lange gewusst, dass dieser Tag schneller kommen würde als ihr lieb war, und dennoch war es unfassbar, dass ihr Vater plötzlich nicht mehr da sein sollte. Zwei Tage hatte er nach ihrem letzten Gespräch noch durchgehalten, doch er hatte meistens nur vor sich hingedämmert. Zusammen mit Iris war Annika an seinem Bett gesessen und hatte seine Hand gehalten. Manchmal hatte sie einen leisen Druck gespürt, der ihr bewusst machte, dass ihr Vater ihre Anwesenheit wahrnahm. Sie sprachen mit ihm und bekamen vereinzelt eine gemurmelte und unverständliche Antwort, doch eine vernünftige Unterhaltung kam nicht mehr zustande. Vermutlich war das auch den starken Medikamenten geschuldet. »Wir können nichts mehr für ihn tun«, hatte der behandelnde Arzt gesagt. »Nur noch, ihm die letzten Tage erträglich zu machen.«

Es war bestimmt das Beste für ihn, doch Annika vermisste sein fröhliches Lächeln, das verschmitzte Zwinkern seiner grau-blauen Augen und seine ruhige, immer zuversichtliche Art. Wie sollte sie ohne ihn weiterleben?

Ihre Stiefmutter stupste sie sachte an. »Komm.«

Sie nickte und wischte sich die Tränen ab. Dann warf sie die roten Rosen, die Iris vor der Beerdigung besorgt hatte, in die Grube hinab auf den Sarg, und ließ ihnen Weihwasser und eine Schaufel Erde folgen. Nach einem letzten schmerzerfüllten Blick trat sie zurück und beobachtete die vielen Menschen, die am Grab vorbeizogen.

Es waren einige fremde Gesichter dabei. Freunde und Kollegen ihres Vaters, die sie nie kennengelernt hatte. Sein Chef hatte eine kurze, aber bewegende Rede gehalten, bevor er einen Kranz der Firma niedergelegt hatte. Die Vorsitzenden der Vereine, in denen ihr Vater tätig gewesen war, hatten das ebenfalls getan. Er war sehr aktiv und beliebt gewesen. Der Gedanke wärmte Annikas Herz und trieb ihr erneut einen Schwall Tränen in die Augen.

Sie ließ ihren Blick über die bekannten Gäste schweifen. Die Geschwister ihres Vaters waren aus dem fernen Bayern angereist. Auch drei ihrer fünf Cousins und Cousinen waren gekommen. Ihre Großeltern dagegen hatten es abgelehnt, nach Norddeutschland zu fahren, was Annika nicht verstehen konnte. Schließlich wurde ihr Sohn beerdigt. Sie konnten ihm doch unmöglich noch im Tode grollen, dass er seine Heimat aufgegeben hatte und nach Schleswig-Holstein gezogen war.

In Annikas Kindheit hatte es häufigere Besuche in Bayern gegeben, sie hatte auch manche Ferien bei den Großeltern verbracht. Doch nach der Scheidung war das alles eingeschlafen, vielleicht auch, weil ihr Vater die endlosen Vorwürfe nicht mehr hören konnte, er hätte seine Familie im Stich gelassen.

Wer allerdings nicht anwesend war, war ihre Mutter. Annika hatte vergeblich gehofft, dass sie kommen würde. Dabei war es nicht überraschend. Sie würde bestimmt eine Ausrede parat haben. Vielleicht hatte sie Kopfweh oder hatte sich nicht aufraffen können.

Dass es Annika nicht überraschte, bedeutete nicht, dass sie nicht bitter enttäuscht war. Ihre Mutter hatte es nicht ein einziges Mal über sich gebracht, ihren Ex-Mann während seiner letzten Tage im Krankenhaus zu besuchen, aber wenigstens zur Beerdigung hätte sie erscheinen können. Sie hatte ihn doch einmal geliebt und auch nach der Scheidung war ihr Vater immer für sie da gewesen. Er hatte sich um alle Dinge gekümmert, die für ihre Mutter zu schwierig waren, und dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte. War es wirklich zu viel verlangt, ihm das letzte Geleit zu geben?

Aber ein anderes Gesicht überraschte Annika. Sven war da. Prompt begann ihr Herz aufgeregt gegen ihre Rippen zu klopfen. Er sah so gut aus in der schwarzen Jeans und dem dunklen Hemd, das seine blonden Haare betonte. Es war sehr anständig von ihm, zu kommen. Annika sehnte sich nach dem zärtlichen Streicheln seiner Hände und sie wünschte sich, sie könnte sich einfach in seine Umarmung fallen lassen.

Er lächelte sie an, als er ihrem Blick begegnete, und beschämt wandte sie sich ab.

Doch er wartete am Tor auf sie, als sie mit Iris als Letzte der Trauernden den Friedhof verließ.

»Hast du kurz Zeit, Annika?«, fragte er.

»Ist ein schlechter Moment«, wich sie aus.

»Ich weiß. Aber wir müssen reden.«

»Nicht jetzt, Sven, ich bin viel zu sehr durch den Wind.«

»Das verstehe ich.« Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Annika wehrte sich kurz, doch dann ließ sie es geschehen. Das vertraute Gefühl tröstete sie und sie lehnte sich an seine Schulter.

»Es tut mir so leid mit deinem Vater«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Er war ein feiner Kerl.«

»Ja, das war er.« Mehr fiel ihr nicht ein.

Iris räusperte sich neben ihr. »Wir müssen los. Unsere Gäste warten.«

»Ja.« Annika löste sich von Sven. »Sei nicht böse, aber ich muss ...«

»Ich weiß«, nickte er verständnisvoll. »Wir reden später.« Er drückte Iris die Hand, murmelte einige Beileidsworte und wandte sich um.

Annika sah ihm nach. Wieso hatte sie diesen großartigen Mann gehen lassen? Selbstironisch verzog sie die Mundwinkel, als sie ihrer Stiefmutter folgte. Sie hatte Sven nicht gehen lassen, sie hatte ihn fortgestoßen. Sie hatte Schluss gemacht, nicht er. Für ihn war das Ende wie aus heiterem Himmel gekommen und sie wusste, dass er es immer noch nicht verstehen konnte. Sie verstand es ja selbst nicht. Sie hatte gedacht, ihn wirklich zu lieben. Doch dann war es wieder aufgetaucht. Dieses Gefühl, etwas zu vermissen. Irgendetwas fehlte ihr, etwas, das sie nicht benennen konnte. Etwas, das verhinderte, dass sich die Liebe auf Dauer in ihrem Herzen einnisten konnte. Es war klar, worüber Sven reden wollte, aber wie sollte sie ihm etwas erklären, das sie selbst nicht ergründen konnte? Am Anfang einer Beziehung hing ihr Himmel voller Geigen und sie war zuversichtlich, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Doch nach einer Weile flachte die Liebe ab und sie war nicht mehr fähig, sich mit ihrem ganzen Herzen darauf einzulassen. Bei Sven hatte es zwei Jahre gedauert, bis sie eines Morgens aufgewacht war und erkannte, dass sie ihn nicht genug liebte, um ihr Leben mit ihm zu verbringen. Mit bitterer Verzweiflung hatte sie gegen dieses Gefühl der Leere angekämpft, mit dem Ergebnis, dass sie häufig mit Sven gestritten hatte. Wegen nichtiger Kleinigkeiten, die normalerweise kaum ein weiteres Wort wert gewesen wären. Und eines Abends hatte sie Schluss gemacht. Es tat ihr immer noch weh, wenn sie daran dachte, doch sie wusste, dass sie richtig gehandelt hatte.

Aber Sven wusste es nicht. Er hatte sie mit Anrufen bombardiert, die sie ausweichend beantwortet hatte, bis ihr nichts mehr einfiel und sie ihn nur noch wegdrückte. Als es ihrem Vater schlechter ging, hatte er ihr seinen Beistand angeboten, sie jedoch in Ruhe gelassen, als sie darauf nicht reagierte. Und jetzt war er wieder da.

Während sie sich beim Essen mit ihrer Familie und den anderen Trauergästen unterhielt, versuchte sie, Sven aus ihren Gedanken zu verbannen, doch es gelang ihr nur unvollständig. Sie war froh, als die Feier dem Ende zuging und sie schließlich mit Iris in ihrem Corsa saß.

»Es war eine schöne Beerdigung«, bemerkte sie zu ihrer Stiefmutter, die den Blick abgewandt hatte und aus dem Fenster starrte.

»Das war es«, stimmte Iris zu. »So viele Menschen. Ich wusste, dass dein Vater sehr beliebt war, aber das hat mich doch überrascht.« Sie drehte sich zu Annika um. »Warum hast du Sven nicht zur Trauerfeier eingeladen?«

»Wir sind nicht mehr zusammen.«

»Was?« Iris starrte sie entgeistert an. »Seit wann?«

»Drei Wochen.«

»Warum hast du uns das nicht erzählt?«

»Ich wollte Papa nicht enttäuschen. Er mochte Sven so gern.«

»Stimmt. Er hat in ihm schon seinen Schwiegersohn gesehen. Einmal sagte er zu mir, er wünschte sich, lange genug zu leben, um dich als Braut sehen zu können.«

Annika drehte es bei diesen Worten das Herz um und sie drückte unbewusst aufs Gaspedal.

»Du fährst zu schnell«, kommentierte Iris trocken.

Sie passte ihre Geschwindigkeit an. »Es hat letztendlich nicht mit uns funktioniert«, erklärte sie.

»Und was war es dieses Mal?« Der spitze Ton war nicht zu überhören.

Annika zuckte mit den Schultern.

»Ich vermute, dass du Schluss gemacht hast.« Iris seufzte hörbar. »Sven ist ein guter Mann. Glaubst du, du findest einen Besseren?«

Annika schnitt eine klägliche Grimasse. Vermutlich nicht. Aber sie wollte nicht darüber sprechen. »Was ist eigentlich mit diesem ominösen Umschlag, den Papa erwähnt hat? Den du mir geben sollst?«

Iris wandte sich ab. »Nicht jetzt, Annika«, erwiderte sie kühl.

»Wann dann? Ich warte seit diesem Gespräch darauf, dass du ihn mir gibst. Du hast ihn doch, oder?«

»Ja, ich weiß, wo er ist.« Iris sah immer noch aus dem Fenster. »Aber ich bin nicht sicher, ob du ihn wirklich bekommen sollst.«

»Wieso?«

»Man soll die Vergangenheit ruhen lassen. Du reißt nur alte Wunden damit auf. Und ich sorge mich, was es dir antut.«

»Du sorgst dich?« Annika zog die Augenbrauen hoch. Dass sich ihre Stiefmutter um sie Gedanken machte, war etwas Neues.

»Ja, das tue ich.« Ruckartig drehte sich Iris zu ihr um. »Du tust immer so, als wärst du mir egal. Aber das ist nicht der Fall. Und ich beschwöre dich, diesen Umschlag zu vergessen. Es bringt dir nur Schmerz, zu wissen, was darin steht. Und du kannst es doch nicht mehr ändern.«

Annika warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. Iris’ Worte waren perfekt, um ihre Neugier anzustacheln. Dennoch wurde sie unsicher. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber sicher nichts, das ihr selbst Schmerz zufügte. »Dann sag mir doch einfach, was drin steht.«

»Ach Annika, das ist nicht so leicht. Deine Eltern hätten es dir vor langer Zeit erzählen sollen, doch Kerstin wollte es nicht. Vermutlich, um dich zu schützen. Sie wird gar nicht glücklich sein, dass dein Vater es überhaupt angesprochen hat. Lass es einfach dabei.«

Annika hielt vor dem Reihenhaus in einem Hamburger Vorort, in dem Iris nun allein wohnte. »Papa wollte, dass ich es weiß.«

Ihre Stiefmutter nickte ergeben. »Gut, ich hole dir den Umschlag. Magst du mit reinkommen?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte jetzt nicht in die Wohnung gehen, in der alles noch nach ihrem Vater roch und es so schien, als würde er gleich um die Ecke kommen. »Ich warte.«

Iris nahm ihre Tasche und stieg aus. Nur wenige Minuten später kam sie zurück, in der Hand einen dicken DIN-A5-Umschlag, dessen braune Farbe schon verblasst war. Sie reichte ihn Annika durchs Fenster. »Es ist nicht gut, in der Vergangenheit zu wühlen«, murmelte sie. »Du weißt nicht, was du alles aufdeckst.«

»Gibt es denn etwas aufzudecken?«, versuchte Annika einen Scherz, doch der Blick ihrer Stiefmutter ließ sie verstummen.

»Wenn du Fragen hast, geh zu deiner Mutter«, sagte Iris distanziert. »Lass mich damit bitte in Ruhe.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging ins Haus.

 

Unentschlossen drehte Annika den alten Umschlag in den Händen. Sie war schon drauf und dran, ihn aufzureißen, doch dann legte sie ihn zur Seite. Nicht hier im Auto. Sie brannte darauf, zu erfahren, was er enthielt, aber das wollte sie in aller Ruhe zu Hause tun. In ihren eigenen vier Wänden, wo sie niemand störte. Sie ließ den Motor an und wendete.

Sie musste sich beherrschen, um nicht zu schnell zu fahren. Immer wieder fiel ihr Blick auf den Umschlag auf dem Beifahrersitz. Was würde sie darin finden? Im Leben ihrer Eltern schien etwas vorgefallen zu sein, das auch sie selbst betraf. Sie sogar jetzt noch beeinflussen konnte, wenn sie Iris glauben durfte.

Sie wohnte in einem Dorf auf halbem Weg zwischen Kiel und Neumünster, dem Heimatort ihrer Mutter. Das kleine Haus hatte einst ihrer Großtante gehört. Es war ein Fertighaus, das weder über Keller noch Dachboden verfügte und außer Bad und Küche nur drei weitere Zimmer hatte. Für Annika war es perfekt. Vielleicht zu perfekt. Denn es war nie für sie infrage gekommen, das Haus aufzugeben.

Sie parkte am Straßenrand und lief um die Ecke, den verblichenen braunen Brief in der Hand. Sie fühlte einen kleineren Umschlag darin, der etwas Festes beinhaltete. Vielleicht Fotos? Möglicherweise Aufnahmen aus der Jugend ihrer Eltern? Oder ihrer eigenen Kindheit? Es gab erstaunlich wenig Bilder aus ihren frühen Lebensjahren im Album ihrer Mutter. Als Annika den alten Schinken zum ersten Mal durchgeblättert hatte, war sie fast beleidigt gewesen, dass man sie so selten geknipst hatte. Aber was sollten solche Fotos für ein Geheimnis beinhalten? Sie seufzte und beschleunigte ihre Schritte. Sie hatte Angst vor dem Blick in den Umschlag und konnte es dennoch kaum erwarten.

Abrupt blieb sie stehen. Auf der Eingangsstufe saß Sven und lächelte ihr entgegen. Das passte ihr nun wirklich überhaupt nicht. Doch sie hatte ihn schon zu lange hingehalten. Sie zwang sich zu einem Lächeln, das allerdings ziemlich verkrampft ausfiel.

»Bist du böse?«, fragte er vorsichtig. »Ich weiß, dass es eine blöde Zeit ist. Aber ich will bei dir sein, wenn es dir dreckig geht.«

»Es geht mir nicht dreckig«, widersprach sie.

»Komm schon, Nicky, du hast gerade deinen Vater beerdigt. Du kannst mir nicht erzählen, dass es dir gut geht.«

Aber Seelengespräche mit ihrem Ex-Freund halfen da auch nicht weiter. Was sollte sie tun, wenn Sven anfing, zu klammern? »Magst du mit reinkommen?«, fragte sie.

Bereitwillig stand er auf. »Gerne.«

Innerlich seufzend schloss Annika die Haustür auf und legte den Umschlag auf der kleinen Kommode im Flur ab. Die große Enthüllung musste noch ein wenig warten.

Sie bat Sven ins Wohnzimmer und verschwand, um sich umzuziehen. Als sie in Jeans und einem T-Shirt zurückkam, hatte er ihnen bereits Getränke eingeschenkt. Sie spürte einen feinen Stich im Herzen, als sie sah, wie selbstverständlich er sich in ihrem Haus bewegte. Er wohnte ja fast selbst hier.

Er reichte ihr ein Glas Cola. »Sag mir warum, Nicky«, meinte er bedrückt.

»Ach Sven, das habe ich dir doch schon erklärt.«

»Nein, hast du nicht. Nicht so richtig. Was habe ich falsch gemacht?«

»Nichts. Es liegt nicht an dir, sondern nur an mir, wirklich.«

»Habe ich dir zu wenig Freiheit gelassen? Ich weiß, dass ich dich bedrängt habe, zu mir zu ziehen. Wenn es das ist, lass uns darüber reden. Wir finden bestimmt eine Lösung.«

»Das ist es nicht, wirklich nicht.«

Die Frage, wo sie letztendlich wohnen sollten, war ein ständiger Diskussionspunkt zwischen ihnen gewesen. Sven arbeitete in Hamburg und wollte sein Appartement dort nicht aufgeben, doch Annikas Leben war hier.

»Ich meine, ich habe wirklich nicht viele Chancen, hier im Umkreis eine Arbeit zu finden«, begann er grinsend, »während man auch in Hamburg jede Menge Bürokauffrauen braucht, aber wenn dein Herz so sehr an diesem Ort hängt ...«

»Sven, bitte, ich habe gesagt, daran liegt es nicht.«

»Woran dann? Ich liebe dich, Nicky.«

Annikas Herz begann bei dem Kosenamen zu pochen. Nur er nannte sie so. »Ich liebe dich auch«, gestand sie. »Aber das ist nicht genug.«

»Wie kann es nicht genug sein, sich zu lieben?«, fragte er erstaunt. »Wenn wir uns lieben, können wir alle Probleme aus der Welt räumen. Irgendein Kompromiss findet sich immer.«

»Ich kann es dir nicht erklären, Sven, so sehr ich es auch möchte. Es ist nur ein Gefühl, dass mir etwas fehlt. Etwas, das ich noch in keiner Beziehung gefunden habe. Da ist eine unbestimmte Sehnsucht in mir und ich weiß nicht, wonach. Es liegt wirklich nicht an dir. Vielleicht bin ich einfach dazu bestimmt, Single zu bleiben.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.« Sven stellte sein Glas ab und nahm sie in die Arme. »Warum fliegen wir nicht noch einmal zusammen? Das hat dir immer Spaß gemacht. Wir machen einen Rundflug über die ganze Gegend. Du wirst sehen, wie klein deine Probleme von oben aussehen.«

Annika lächelte wehmütig. Die Fliegerei war ihr gemeinsames Hobby gewesen. Sven am Steuerknüppel und sie als Passagier. Er war ein hervorragender Pilot. Sie liebte es, die Welt aus der Höhe zu betrachten. Und er hatte recht. Die Probleme konnten tatsächlich für eine Weile verschwimmen. Doch kaum setzte man am Boden auf, waren sie mit voller Wucht wieder da.

»Es geht nicht, Sven.« Sie drückte sich von ihm fort. »Bitte akzeptiere das einfach. Du verdienst etwas Besseres als mich. Ich würde dich nur unglücklich machen.«

»Darauf lasse ich es ankommen.«

»Aber ich nicht. Mach es mir doch nicht so schwer.«

»Ich gebe dir Bedenkzeit«, schlug Sven vor. »Ein paar Wochen, vielleicht sogar bis nach den Sommerferien, dann werden wir weitersehen.«

»Nein, werden wir nicht«, fuhr Annika auf. »Sieh es doch ein, Sven, es ist aus. Quäl dich nicht weiter. Und mich auch nicht. Lass mich in Ruhe. Bitte.«

Er sah sie nur an. Mit einem gekränkten Gesichtsausdruck, der sie betroffen machte. Doch wenn sie jetzt einlenkte, war diese Diskussion niemals beendet. »Wir hatten eine schöne Zeit, Sven«, sagte sie leise. »Aber sie ist vorbei. Lass mich gehen.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Na gut. Dann ist das wohl das Ende. Leb wohl.« Er drehte sich um und lief zur Tür.

Annika öffnete schon den Mund, um ihm nachzurufen, doch sie biss sich auf die Lippe. Es war besser so. Der Knall der Haustür schnitt ihr ins Herz, als wieder einmal ein Kapitel ihres Lebens zu Ende ging.

 

2

Wie betäubt saß sie auf der Couch. Sie fühlte sich mies. Warum hatte sie das getan? Wie sollte sie den Mann fürs Leben finden, wenn sie jemanden wie Sven in die Wüste schickte? Wie sollte sie jemals finden, was sie suchte, wenn sie keine Ahnung hatte, was das war? Wie konnte sie diese Leere bezwingen, die immer auftrat, wenn sie sich langfristig binden wollte?

Die Grübelei führte zu nichts. Sie musste sich ablenken. Der Umschlag fiel ihr ein. Aber war sie wirklich gewappnet, sich dem Geheimnis ihrer Eltern zu stellen? Seufzend holte sie das Kuvert von der Kommode und drehte es unschlüssig in den Händen. Noch konnte sie zurück. Doch das hätte ihrem Naturell widersprochen. Mit dem Finger schlitzte sie den Umschlag auf und holte tief Luft, als sie hineingriff und ein zusammengefaltetes Blatt Papier herauszog. Ein einzelnes großformatiges Foto fiel mit heraus. Es zeigte ihre Eltern vor einem Holzhaus, das an einem Hang mitten in einer grünen Wiese stand. Im Hintergrund lag ein See und dahinter erhob sich eine sanfte Hügelkette. Neugierig drehte Annika das Bild um. Åraksbø 1996 stand auf der Rückseite. Zwei Jahre nach ihrer Geburt. Åraksbø, mit einem Kringel über dem A und einem durchgestrichenen o am Ende. Das sah skandinavisch aus. Was tat das Foto in diesem Umschlag? Sie hatte keine Ahnung, dass ihre Eltern je in Skandinavien gewesen waren.

Sie wandte sich dem Blatt Papier zu und runzelte die Stirn. Es war ein Dokument, aber in einer fremden Sprache geschrieben. Vermutlich ebenfalls skandinavisch. Ein Wort war als Überschrift fett gedruckt, doch es sagte ihr nichts. Aber ein Name fiel ihr ins Auge. Dennis Rauner. Darunter stand ihr eigenes Geburtsdatum und ein weiteres Datum, gut zwei Jahre später. Annika wurde eiskalt, als sie ihr Smartphone hervorzog und nach dem Wort googelte. Ihr Mund trocknete völlig aus, als sie auf das Ergebnis sah und das Handy sinken ließ. Es glitt aus ihren Fingern, die plötzlich taub geworden waren, und fiel unbeachtet zu Boden. Annika starrte auf das Dokument, das vor ihr auf dem Tisch lag, unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Das Wort war norwegisch und hieß »Sterbeurkunde«. Ein Junge namens Dennis, mit ihrem Nachnamen und ihrem Geburtsdatum, war im Alter von zwei Jahren in Norwegen gestorben.

Ihr wurde schwindelig. Das alles ließ nur einen Schluss zu. Sie war ein Zwilling und ihr Bruder war als Kleinkind ums Leben gekommen. Minutenlang bemühte sie sich, diese Erkenntnis in sich aufzunehmen, das Ungeheuerliche zu fassen. Sie, ein Zwilling. Und ihr Bruder war tot. Mit bebenden Fingern schüttelte sie den restlichen Inhalt aus dem Umschlag. Es war ein weißes Briefkuvert, in dem Fotos steckten. Auf einem erkannte sie ihre Eltern. Ihre Mutter saß zwischen zwei Männern in einem fremden Zimmer. Einer war ihr Vater, der andere ein blonder, gutaussehender Mann im gleichen Alter. Vielleicht ein Freund. Was tat das Bild in diesem Umschlag? Sie wandte ihre Aufmerksamkeit den restlichen Aufnahmen zu. Es waren Fotos von ihren Eltern mit zwei Kindern. Bilder von einem dunkelhaarigen Mädchen, in dem sie sich selbst erkannte, neben einem blonden Jungen. Beide zusammen im Sandkasten, auf dem Schoß ihres Vaters. Aufnahmen von dem Jungen allein, die eindeutig abgeschnitten worden waren. Annika konnte sie alle zuordnen. Die anderen Hälften befanden sich im Fotoalbum ihrer Mutter. Halbe Bilder, auf denen nur sie mit einem Elternteil oder allein zu sehen war. Sie war sich sicher, dass von einer der Aufnahmen vor ihr der restliche Teil sogar in dem Album klebte, das ihre Mutter für sie angelegt hatte.

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie war kein Einzelkind, wie sie ihr Leben lang angenommen hatte. Sie hatte einen Bruder. Einen toten Bruder. Dennis. Sie ließ den Namen in sich nachklingen. Dennis und Annika. Was war nur passiert? Warum war er gestorben? Auf welche Weise? Wieso in Norwegen? Sie nahm wieder die Urkunde, hob ihr Handy auf und übersetzte jedes Wort. Doch die Todesursache wurde nicht erwähnt.

Annika war fassungslos. Wie hatten ihre Eltern ihr verschweigen können, dass sie einen Bruder gehabt hatte? Dass sie ein Zwilling war? Geschockt starrte sie auf den Tisch, auf dem sie die Fotos verteilt hatte. War das der Grund, dass sie immer das Gefühl hatte, ihr würde etwas fehlen? Konnte sie sich deshalb nicht in eine Beziehung fallen lassen, weil sie selbst unvollständig war? Weil ein Teil von ihr, ihr Zwillingsbruder, fehlte, und sie keine Ahnung davon gehabt hatte? Nur ihre Seele erinnerte sich und hatte Angst, sich neu zu binden, um nicht wieder verletzt zu werden.

Darüber musste sie näher nachdenken, doch im Moment war sie zu aufgewühlt dazu. Sie wählte die Nummer ihrer Mutter. Es läutete lange. Annika vermutete, dass ihre Mutter Vorwürfe wegen der verpassten Beerdigung erwartete und deshalb nicht abnahm. Doch Annika konnte sehr beharrlich sein. Als der Anrufbeantworter ansprang, legte sie auf und wählte erneut. Dieses Spiel trieb sie noch zwei weitere Male, bis endlich abgehoben wurde.

»Was soll das, Annika?«, hörte sie die müde Stimme ihrer Mutter. »Wenn ich nicht hingehe, weißt du doch, dass es einen Grund hat.«

»Wo warst du heute, Mama?«

»Ach Kind.« Der Seufzer klang abgrundtief. »Ich habe es einfach nicht geschafft.«

»Es war schwer für uns alle.«

»Iris ist jetzt seine Frau. Ich will ihr nicht begegnen.«

»Ich weiß, dass du sie nicht magst, Mama. Aber so schlimm ist sie nicht.«

»Wenn du das sagst.«

»Ja, das sage ich. Sei doch froh, dass Papa wieder jemanden gefunden hat.«

»Und dann noch die Blicke deiner Großeltern. Sie haben mir nie verziehen, dass er meinetwegen in Norddeutschland geblieben ist. Und dann haben wir uns doch scheiden lassen. In ihren Augen war sein Opfer, die Heimat zu verlassen, damit sinnlos geworden. Ich wollte ihnen einfach nicht Rede und Antwort stehen.«

»Sie waren gar nicht da. Nur Onkel Fabian und Tante Susanne mit ihren Familien.«

»Ach.« Ihrer Mutter fiel nichts mehr ein. Es war sowieso alles nur eine Ausrede. Die Scheidung war über zwölf Jahre her, da krähte kein Hahn mehr danach. Aber Annika bohrte nicht nach. Das hatte wenig Sinn.

»Ich habe heute von Iris einen Umschlag erhalten«, erzählte sie.

»Einen Umschlag? Etwas Wichtiges?« Es sollte interessiert klingen, doch Annika wusste, dass sich ihre Mutter für gar nichts mehr begeistern konnte.

»Ich glaube schon. Papa wollte, dass ich die Wahrheit erfahre.«

»Welche Wahrheit?« Nun klang die Stimme aufgeschreckt.

»Dass ich einen Zwillingsbruder hatte.«

Es blieb still am anderen Ende. »Mama?«, fragte sie nach einer ganzen Weile. »Bist du noch da?«

»Ich weiß nicht, was du da bekommen hast«, begann ihre Mutter mit harter Stimme. »Aber du hattest natürlich keinen Bruder.«

»Doch Mama, ich habe seine Sterbeurkunde hier. Und Fotos.«

»Du bist ein Einzelkind. Am besten wirfst du das Zeug weg. Es verwirrt dich nur. Ich muss gehen.«

Sie hatte aufgelegt. Annika starrte das Handy an. Ihre Mutter hatte tatsächlich alles geleugnet. Aber es gab ja noch andere Quellen. Sie wählte wieder.

»Hallo Annika«, hörte sie die Stimme ihrer Stiefmutter. »Ich nehme an, du hast den Umschlag doch geöffnet.«

»Ja, habe ich.«

»Ich sagte, du sollst mit Fragen zu deiner Mutter gehen.«

»Sie leugnet, dass ich einen Bruder hatte. Sie behauptet, ich wäre ein Einzelkind.«

Iris lachte rau. »Das sieht ihr ähnlich.«

»Was ist damals passiert? Weißt du es?«

»Ich habe gesagt, du sollst mich da heraushalten. Ich bin nicht die richtige Adresse, um dir von früher zu erzählen. Das kann nur deine Mutter.«

»Aber sie wird mir nichts sagen.«

»Dann musst du einen Weg finden, zu ihr durchzudringen. Ich kann dir da wirklich nicht helfen. Es ist einfach nicht mein Platz.«

Seufzend beendete Annika das Gespräch. Wie sollte sie mehr über ihren toten Bruder erfahren, wenn niemand mit ihr sprechen wollte?

 

In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Sie trauerte um ihren Vater und weinte heiße Tränen um seinen Tod. Doch er wurde überschattet von ihrer Entdeckung. Die Enthüllung, dass sie einen Zwillingsbruder gehabt hatte, raubte ihr immer noch den Atem. Sie versuchte mit aller Macht, sich an früher zu erinnern, an die Zeit zu zweit. Doch es gelang ihr nicht. Sie spürte nur den schmerzlichen Verlust und vermisste den Bruder, den sie vergessen hatte. Zudem konnte sie es nicht fassen, dass ihre Eltern ihr nie von ihm erzählt hatten. Warum waren Fotos zerschnitten worden, die sie beide zeigten, warum hatte ihre Mutter jede Spur ihres Sohnes aus ihren Fotoalben getilgt? Es war doch schlichtweg nicht möglich, dass sie sich nicht mehr an ihr Kind erinnern wollte. Oder doch? Ihre Mutter war schon ein wenig seltsam, das musste Annika zugeben. Und niemand war da, der bereit war, ihr Antworten zu geben.

Sie setzte sich auf. Doch. Es gab jemanden. Sogar im Moment in der Nähe. Sie schielte auf ihren Wecker. Es war erst fünf Uhr. Definitiv zu früh, um ihre Tante anzurufen. Sie legte sich wieder zurück, war aber viel zu rastlos. Schließlich stand sie auf und putzte ihr Häuschen durch, um sich abzulenken. Um neun Uhr griff sie zum Telefonhörer. Ihre Verwandten wollten heute zurückfahren, da saßen sie bestimmt gerade beim Frühstück. Da sie von der Familie ihres Vaters keine Handynummern hatte, rief sie einfach in der Pension an, in der sie abgestiegen waren, und fragte nach Frau Andrea Rauner.

»Annika«, hörte sie kurz darauf die freundliche Stimme ihrer Lieblingstante. »Was gibt es?«

»Ich weiß, dass es ungünstig ist, Tante Andrea, aber hättest du ein wenig Zeit für mich? Für ein Gespräch? Es ist ziemlich wichtig für mich.«

»Na klar. Schieß los.«

»Nein, nicht am Telefon. Persönlich wäre mir lieber.«

Es blieb einen Moment still in der Leitung. »Dann muss es wirklich wichtig sein. Soll ich zu dir kommen?«

»Wenn das ginge.«

»Ich mache es einfach möglich. In spätestens einer Stunde bin ich bei dir.«

 

Verlegen drehte Annika ihr Teeglas in der Hand. Sie freute sich, ihre Tante zu sehen, doch es war nicht so einfach, die lange Zeit zu überbrücken, in der sie keinen Kontakt gehabt hatten. Am Tag zuvor hatte sie mit der Familie ihres Vaters eher Belanglosigkeiten ausgetauscht, sich mehrmals angehört, wie groß sie geworden war, und sich nach den Großeltern erkundigt. Jetzt wusste sie nicht, wie sie beginnen sollte.

Verstohlen musterte sie ihre Tante. Sie war inzwischen Mitte fünfzig und ein wenig molliger, als Annika sie in Erinnerung hatte. »Es tut mir leid, dass der Kontakt zwischen uns so abgerissen ist«, begann sie zögernd.

Andrea zuckte mit den Schultern. »Das hast nicht du zu verantworten. Du warst noch ein Kind. Was kann ich für dich tun?«

»Ich habe da gestern etwas erfahren ...«

»Okay«, dehnte Andrea und sah sie abwartend an.

Annika legte eines der Kinderfotos auf den Tisch.

Ihre Tante sog tief die Luft ein und nippte an ihrem Wasser. »Dein Vater wollte es dir immer sagen. Er wollte dir von Dennis erzählen und er litt darunter, dass er deiner Mutter versprochen hatte, es nicht zu tun.«

»Warum? Warum durfte ich es nicht erfahren?«

»Ich weiß es nicht. Ich muss leider gestehen, dass ich Kerstin nicht besonders gut kenne. Als ich deinen Onkel kennengelernt habe, war dein Vater gerade ausgezogen. Es herrschte ziemlich dicke Luft bei ihm daheim, weil seine Eltern es nicht guthießen, dass ihr Nesthäkchen unbedingt in Hamburg studieren wollte. Bei jedem Telefonat hagelte es Vorwürfe, bis er sich gar nicht mehr meldete. Ich habe ihn zum ersten Mal getroffen, als ich mich mit deinem Onkel verlobt habe. Bis dahin hatten sich die Fronten etwas beruhigt und der Kontakt wurde wieder intensiver. Als er Kerstin traf, brachte er sie zu unserer Hochzeit mit, damit sie die Familie kennenlernte. Wir haben uns gut verstanden. Sie war eine fröhliche junge Frau, die uns allen sofort sympathisch war.«

»Meine Mutter?«, hakte Annika ungläubig nach.

»Ja.« Andrea lächelte. »Deine Eltern waren so glücklich, als sie heirateten. Ich weiß nicht, was passiert ist. Irgendwann in der Schwangerschaft veränderte sie sich. Man tat es mit Schwangerschaftsdepression ab, und tatsächlich besserte sich ihr Zustand nach eurer Geburt wieder. Aber ich meine immer noch, dass irgendetwas geschehen ist, über das sie nicht sprechen wollte. Sie war nicht mehr so ausgelassen und fröhlich wie früher. Deine Großeltern sagten, dass sie endlich erwachsen würde und die Verantwortung spürte, Kinder zu haben. Ich bin mir da nicht so sicher. Allerdings haben wir uns zu selten gesehen, um das wirklich beurteilen zu können. Ich weiß nur einmal, beim sechzigsten Geburtstag deines Opas hat sie etwas zu tief ins Glas geschaut und war wieder so, wie ich sie kannte. Ihr Lachen war ansteckend und wir hatten viel Spaß. Aber am nächsten Tag verdammte sie den Alkohol und wetterte, dass er das ganze Leben kaputtmachen könne. Ich habe sie gefragt, was sie damit meint, aber sie hat mich einfach stehenlassen.«

»Mama hat nie einen Tropfen Alkohol getrunken«, stimmte Annika zu.

»Das kam aber ganz plötzlich. Ich glaube, es war kurz vor ihrer Schwangerschaft. Früher war das nicht so. Da hat sie sich durchaus gern mal ein Glas Wein gegönnt. Ich vermute, dass sie in betrunkenem Zustand etwas getan hat, das sie zutiefst bereut und deshalb jeglichem Alkohol abgeschworen hat.«

»Aber du weißt nicht, was.«

»Nein, keine Ahnung. Ein knappes halbes Jahr nach der Feier passierte dann die Tragödie mit deinem Bruder, und sie ist nie wieder gekommen. Dein Vater hat immer allein mit dir Urlaub in Bayern gemacht. Und wie du weißt, war damit nach der Scheidung auch Schluss.« Andrea seufzte. »Es ist schade, dass wir uns so aus den Augen verloren haben, aber ich kann niemandem die Schuld dafür geben.« Sie straffte sich. »Ich nehme an, du willst ein paar Antworten.«

»Richtig. Mama hat es schlichtweg geleugnet und Iris will sich heraushalten.«

»Ist vielleicht auch vernünftig. Sie will es sich nicht mit deiner Mutter verderben.«

»Sie verstehen sich sowieso nicht sehr gut. Ich glaube, Mama hat es Papa nie verziehen, dass er wieder geheiratet hat, obwohl sie immer sagte, sie gönnt ihm sein Glück.«

»Sie hat sich nie vom Tod deines Bruders erholt und das hat sich auf ihre Ehe ausgewirkt. Irgendwann haben sie wohl nur noch nebeneinanderher gelebt. Eine Scheidung war das Beste für beide.«

Annika nickte langsam. »Jetzt verstehe ich so manches. Ich wusste nie, in welcher Stimmung ich sie vorfinden würde, wenn ich aus der Schule kam. Manchmal war sie ganz normal, hatte gekocht, half mir bei den Hausaufgaben und hat mit mir gespielt, aber an anderen Tagen saß sie immer noch am Frühstückstisch. Sie hatte sich nicht mal angezogen, sondern saß genauso da wie am Morgen und malte imaginäre Kringel auf den Tisch. Wenn sie in diesem Zustand war, bin ich in mein Zimmer gegangen und hab sie nicht gestört. Wenn Papa aus der Arbeit kam, hat er mit ihr geredet und sich um mich gekümmert. Als wir nach der Scheidung nach Neumünster gezogen sind, ging ich dann zu meiner Freundin Rieke, wo ich immer willkommen war. Aber ich konnte auch Papa jederzeit anrufen, wenn Mama mal wieder weggetreten war.«

»Kam das oft vor?«

»Ab und zu. Ganz schlimm war es immer an meinem Geburtstag. Sie hat sich zusammengerissen, um mir den Tag nicht zu verderben, und dachte, ich merke nicht, wie sie heimlich weint. Ich habe mich ständig gefragt, warum sie meinen Geburtstag so hasst.«

»Das muss schwer für dich gewesen sein.«

»Ja, das war es. Als Kind dachte ich, es wäre meine Schuld.«

»Hast du sie nie nach dem Grund gefragt?«

»Natürlich. Sie war zutiefst erschrocken und hat mir versichert, dass es überhaupt nichts mit mir zu tun hat, aber eine Erklärung hat sie mir nicht gegeben.« Annika atmete tief durch. »Jetzt verstehe ich es. Es war auch der Geburtstag des Kindes, das sie verloren hat.«

»Wurde es denn nie besser mit ihr?«

»Doch. Sie ist zwar immer sehr in sich gekehrt, aber so schlimme Episoden hatte sie schon lange nicht mehr. So viel ich weiß.«

»Du bist trotzdem schnell ausgezogen.«

»Sobald ich achtzehn war. Es ist einfach deprimierend, mit jemandem zusammenzuleben, der nie lacht. Sie hatte dieses Haus von ihrer Großtante geerbt und hat es mir geschenkt. Sie war bestimmt froh, mich los zu sein.«

»Red dir das nicht ein. Kerstin hat ihre Defizite, aber sie hat dich immer aufrichtig geliebt.«

Annika biss sich auf die Lippe. Wie gerne würde sie das glauben. »Wie ist mein Bruder gestorben?«, wollte sie wissen.

»Deine Eltern machten mit euch Urlaub in Norwegen. Der beste Freund deines Vaters stammt von dort. Sie hatten eine Fahrt zu einem See geplant, aber deinem Vater ging es nicht gut und er blieb zuhause. Sein Freund unternahm den Ausflug mit euch und eurer Mutter alleine. Bei einer Bootsfahrt auf dem See ist dein Bruder ins Wasser gefallen und ertrunken.«

Annika schlug sich die Hand vor den Mund. Sie spürte einen heftigen Stich im Herzen, als sie sich die Szene vorstellte und Tränen traten in ihre Augen.

»Deine Mutter gab sich die Schuld an dem Unglück. Es war auch für dich sehr schlimm. Du hast immer nur nach Dennis gerufen und warst überhaupt nicht mehr zu trösten. Man sagt ja, dass Zwillinge oft eine besondere Verbindung haben. Ich weiß nicht, ob das bei euch der Fall war, aber du hast eindeutig den Verlust gespürt. Deine Mutter wusste sich nicht mehr zu helfen. Sie trauerte selbst so sehr und du hast den ganzen Tag nur geschrien. Schließlich kam dein Vater für zwei Wochen mit dir nach Bayern. Es fiel ihm schwer, deine Mutter allein zu lassen, aber für sie war es das Beste. Sie konnte in dieser Zeit zur Ruhe kommen und sich mit dem Tod ihres Kindes auseinandersetzen. Und wir haben nach besten Kräften versucht, dich abzulenken.«

»Hat es geklappt?«

»Einigermaßen, ja. Die neue Umgebung war hilfreich. Aber du hast noch lange nach Dennis gerufen und immer wieder gefragt, wo er ist. Erst mit der Zeit ist die Erinnerung an ihn verblasst. Deshalb hat deine Mutter vermutlich beschlossen, dir nie von ihm zu erzählen. Ich bin sicher, sie wollte dir den Schmerz ersparen. Dein Vater war nicht dieser Meinung, aber ihr zuliebe hat er zugestimmt. Wir alle mussten ihr versprechen, Dennis in deiner Gegenwart nie zu erwähnen.« Andrea sah sie mitfühlend an. »Wie geht es dir jetzt nach dieser Enthüllung?«

»Ich weiß nicht«, gab Annika zu. »Irgendwie ist alles in mir taub, aber ich könnte ständig heulen. Dabei weiß ich nicht, ob es wegen Papa ist, oder der Erkenntnis, dass ich einen Bruder hatte. Ich finde es so furchtbar, dass er ertrunken ist. Was für ein grässlicher Tod.«

Andrea nahm ihre Hände. »Es tut mir so leid, Annika. Wenn ich dir irgendwie helfen kann ...«

»Das hast du schon getan. Ich danke dir.«

»Gern geschehen.« Ihre Tante sah auf die Uhr. »Du, es tut mir leid, aber ich muss los. Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.«

»Richtig. Entschuldige, dass ich dich aufgehalten habe.«

»Kein Problem. Es war selbstverständlich, dass ich gekommen bin.« Andrea umarmte sie herzlich. »Ich hoffe, wir bleiben in Kontakt.«

»Unbedingt. Ich melde mich.«

»Das wäre schön.« Ihre Tante drückte sie noch einmal und verabschiedete sich dann.

 

3

Gedankenverloren rührte Annika in ihrem Tee, der inzwischen kalt war. Ihr Herz fühlte sich an wie eine endlose Wüste. Zum Glück war Samstag, einen Arbeitstag hätte sie nicht überstanden. Sie wusste nicht, worum sie mehr trauerte. Um ihren Vater oder um ihren Bruder. Einen Bruder, den sie zwar gekannt hatte, sich aber nicht an ihn erinnerte. Wie hatte sie ihn nur vergessen können? Sie wischte sich über die Augen, die vom Weinen brannten und inzwischen ausgetrocknet waren. Sie hatte Dennis nicht vergessen. Ihre Seele hatte immer gewusst, dass ihr etwas fehlte. Etwas so Essentielles, dass ihr jede Beziehung nach einer Weile leer erschien. Würde ihr dieses Wissen helfen, wenn sie sich wieder verliebte? Oder würde nach einigen Monaten oder Jahren wieder diese Unzufriedenheit von ihr Besitz ergreifen, die sie weiterziehen ließ? War sie etwa dazu verdammt, nie ihr Liebesglück zu finden, weil ein Teil ihrer Seele fehlte? Der Teil, der ihrem Zwillingsbruder gehört hatte?

Sie nahm sein Foto, das mit den anderen vor ihr auf dem Tisch lag. Ein Foto, in der Mitte durchgeschnitten, so wie er von ihr abgeschnitten worden war. Sie holte die andere Hälfte aus ihrem Album und legte sie daneben, doch das Bild wollte nicht mehr zu einer Einheit verschmelzen. Annika biss sich auf die Lippe, als sie ihren Bruder betrachtete. Blonde Haare standen wirr über kecken blauen Augen und in seinem Gesicht lag ein freches Grinsen, das die ganze Welt anzulachen schien. Wie er nun wohl aussehen würde? Würde man sie als Zwillinge erkennen? Sie sah keine große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Sie hatte dunkle Haare und grüne Augen und ihr Gesicht war etwas schmaler. Sie sah viel zu ernst aus für eine Zweijährige. Ihr Bruder dagegen schien ein quirliger Geist gewesen zu sein. Doch das Foto vermittelte nur eine Momentaufnahme, sie hatte natürlich keine Ahnung, wie der erwachsene Dennis gewesen wäre. Sie stellte sich vor, wie gut sie sich verstehen würden. Wie sie mit ihren Problemen zu ihm kommen könnte, wie er sie in den Arm nahm und ihr half, jeden Kummer zu überwinden. Es war ein wunderschönes Bild, das sie in ihrem Geist malte und als es erlosch, fühlte sie sich verloren und leerer als zuvor. Ihr Bruder war tot. Er hatte nie die Chance gehabt, das Leben kennenzulernen. Ihr Herz drehte sich bei dem Gedanken einmal um die eigene Achse und der Kloß in ihrem Hals erstickte sie fast.

Entschlossen stand sie auf und goss den Tee in die Spüle. Dann nahm sie die Autoschlüssel und fuhr nach Neumünster zu ihrer Mutter. Zum Glück war nur wenig Verkehr, denn in den knapp fünfzehn Minuten, die sie für die Strecke benötigte, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Eigentlich war sie überhaupt nicht in der Verfassung, zu fahren, weil sie durch den Tränenschleier in ihren Augen kaum etwas sah.

 

»Annika.« Kerstin sah sie müde an. »Komm herein.«

Annika spürte einen heftigen Widerwillen, das Haus zu betreten. Was wollte sie überhaupt hier? Dachte sie wirklich, ihre Mutter würde ihr von früher erzählen, nachdem sie über zwanzig Jahre geschwiegen hatte?

»Magst du was trinken?«

»Nein, Mama, danke. Ich möchte mit dir reden.«

Ihre Mutter sah sie an. Sie stand einfach nur da, mit hängenden Armen, als wüsste sie nicht, was sie tun sollte.

»Sollen wir uns setzen?«

Kerstin nickte und nahm am Küchentisch Platz. »Es tut mir leid, dass ich nicht bei der Beerdigung war«, murmelte sie.

Annika nickte. Sie fand es schlimm, dass ihre Mutter ihrem Vater nicht einmal die letzte Ehre hatte erweisen können, aber noch schlimmer war es, dass niemand wirklich erwartet hatte, sie vorzufinden.

»Warum habt ihr mir nie erzählt, dass ich einen Zwillingsbruder hatte?« Annikas Stimme war schärfer, als sie beabsichtigt hatte, und als ihre Mutter zusammenzuckte, zwickte sie sofort ein schlechtes Gewissen.

»Wer erzählt so einen Unsinn? Du hast keinen ...«

»Mama! Hör auf, es zu leugnen. Ich habe Fotos.« Sie blätterte die Bilder, die sie mitgenommen hatte, eines nach dem anderen auf den Tisch. »Tante Andrea hat mich ein wenig aufgeklärt, aber ich will mehr wissen.«

Ihre Mutter war blass geworden. Mit zitternder Unterlippe starrte sie die Bilder an, dann wandte sie sich ab. »Ich will das nicht sehen«, stammelte sie.

»Warum nicht? Er war dein Sohn, Mama. Willst du ihn einfach vergessen? Warum hast du kein einziges Foto von ihm? Willst du ihn aus deinem Leben herausschneiden?«

Kerstin starrte nur aus dem Fenster. Es machte Annika wütend, sie so zu sehen, doch sie nahm sich zusammen.

»Tante Andrea sagte, dass er auf einer Urlaubsreise in Norwegen ertrunken ist, als er mit dir und Papas Freund unterwegs war. Wie ist es passiert, Mama? Wie konnte er aus dem Boot fallen? Wieso seid ihr ihm nicht sofort nachgesprungen?«

»Ich will nicht darüber reden, verstehst du das nicht?« Ihre Mutter drehte sich um und Annika erschrak. Kerstins Miene war gequält und aufgewühlt und in ihren Augen glitzerten unvergossene Tränen. Annika fühlte sich sofort schuldig, aber sie wollte jetzt nicht zurückweichen. Sie hatte ein Recht, zu erfahren, unter welchen Umständen ihr Bruder gestorben war.

»Wo ist es passiert, Mama?«, fragte sie sanft. »In diesem Åraksbø?« Sie legte ihr das Foto hin, auf dem ihre Eltern mit einem anderen Mann abgebildet waren. »Und wer ist das?«

Kerstins Augen wurden groß und sie begann zu zittern. »Pack das weg«, raunzte sie und als Annika nicht schnell genug reagierte, nahm sie das Foto und riss es mitten entzwei. Annika stieß einen empörten Schrei aus und entriss ihrer Mutter die beiden Hälften, bevor sie es komplett zerstörte.

»Was hast du nur, Mama?«, fragte sie fassungslos. Papa scheinen diese Fotos wichtig gewesen zu sein.

Kerstin schwieg.

»Mama!«

»Ich will nicht darüber reden, Annika, begreif das endlich. Nicht über Åraksbø, nicht über den Hovatn und überhaupt nicht über Norwegen. Du gehst jetzt besser, ich möchte mich etwas hinlegen.«

»Hovatn? Was ist das?«

Kerstin reagierte nicht. Sie schlurfte ins Wohnzimmer, ohne ihre Tochter weiter zu beachten. Annika hatte sich immer gefragt, warum ständig eine traurige Aura ihre Mutter zu umwehen schien. Nun wusste sie den Grund. Wenn der Gedanke an ihren Bruder ihr schon das Herz umdrehte, wie viel schlimmer musste es sein, das eigene Kind beerdigen zu müssen. Nachdenklich folgte sie ihrer Mutter, die sich inzwischen auf die Couch gelegt hatte. »Wo ist er beerdigt, Mama?«, fragte sie. »Hier oder in Norwegen?«

Lange schien es, als würde Kerstin ihr die Antwort wieder schuldig bleiben, doch dann sah sie mit bebenden Lippen zu ihr hoch. »Es gibt ein Grab in Åraksbø«, flüsterte sie und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.

Ein Grab in Norwegen. Das Grab ihres Sohnes, das sie nie besuchen konnte. Vielleicht auch nicht wollte. Annika seufzte. »Ich komme morgen wieder«, sagte sie leise und schloss die Tür.

 

Annika hatte von ihrer Mutter nicht viel erfahren, trotzdem wusste sie bereits etwas mehr. Åraksbø war ein kleiner Ort, nur etwa hundert Kilometer landeinwärts vom Fährhafen Kristiansand gelegen. Nachdenklich sah sie auf den Interneteintrag. Die Gegend sah einfach bezaubernd aus. Im Hintergrund des Dorfes lag der Åraksfjord, der trotz seines Namens kein Fjord, sondern ein großer See zu sein schien. Ob Dennis hier ertrunken war? Gut möglich. Sie versuchte, sich an den anderen Namen zu erinnern, den ihre Mutter genannt hatte. Als sie sich die Gegend um Åraksbø ansah, fand sie ihn wieder. Der Hovatn war ein Stausee oberhalb von Åraksbø mit knapp sieben Quadratkilometern Oberfläche und einem Abfluss in den Åraksfjord. Annika sah sich Bilder im Internet an und eine leise Sehnsucht nahm von ihr Besitz, diese Gegend mit eigenen Augen zu sehen. Sie wollte wissen, wo ihr Bruder ertrunken war und ergründen, wo ihre Eltern Urlaub gemacht hatten. Sie seufzte. Ihre Urlaubspläne für den Sommer sahen ganz anders aus. Sie holte das Telefon und wählte die Nummer ihrer besten Freundin.

»Hi Rieke, hast du einen Moment Zeit?«

»Klar, für dich immer. Du hör mal, es tut mir wahnsinnig leid mit deinem Vater. Ich wäre gestern gern gekommen, aber ich konnte nicht von der Arbeit weg.«

»Kein Thema. Sag mal, hättest du Lust, mit mir nach Norwegen in Urlaub zu fahren?«

»War ich zwar schon zweimal, aber klar. Wann?«

»Diesen Sommer.«

Es blieb einen Moment still auf der anderen Seite. »Ähh«, stotterte Rieke, »du weißt aber schon, dass wir Kroatien gebucht haben, oder?«

»Ja, natürlich, aber da kann ich doch sowieso nicht mit. Wegen Sven.«

»Der hat schon abgesagt.«

»Wirklich?«

»Er sagte, du hast dich so auf den Urlaub gefreut, dass er ihn dir nicht verderben will. Ehrlich Annika, wieso hast du Schluss mit ihm gemacht? Der Junge ist ein Goldstück.«

»Ich glaube fast, das hat mit meinem Bruder zu tun.«

»Mit wem?«

Annika konnte das Fragezeichen in Riekes Miene förmlich sehen und ein Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. »Erzähle ich dir persönlich. Das ist keine Geschichte fürs Telefon. Aber es ist der Grund, warum ich nach Norwegen will. Ich würde mich echt freuen, wenn du mitkämst.«

»Normalerweise wirklich gern, aber wir haben uns schon komplett auf Kroatien eingestellt. Ich habe doch alles organisiert, wie sieht denn das aus, wenn ich jetzt einen Rückzieher mache? Die anderen verlassen sich auf mich.«

»Verstehe ich. Ich weiß, dass es sehr kurzfristig ist. Aber ich passe. Dann kann Sven mitfahren.«

»Schon, aber ich habe mich auf unseren gemeinsamen Urlaub gefreut.«

»Nächstes Mal wieder, Rieke. Sei nicht böse, ja?«

»Nein, natürlich nicht, das weißt du doch. Und ich bin gespannt auf deine Geschichte. Melde dich bald, ja?«

»Natürlich, sobald ich etwas mehr Ruhe habe.«

Annika verabschiedete sich von ihrer Freundin. Sie seufzte. Schade, dass Rieke sie nicht begleiten konnte. Aber es war eigentlich klar gewesen. Die ganze Clique wollte nach Kroatien fahren. Mit dem Auto, beziehungsweise mit zwei Autos, weil sie zu acht waren. Gemeinsam hatten sie die Zwischenstopps für die lange Fahrt geplant, Campingplätze und Sehenswürdigkeiten ausgesucht und sich aufs Meer gefreut. Annika spürte einen Stich im Herzen. Es war typisch Sven, dass er zurücktrat, um ihr die Reise zu ermöglichen. Rieke hatte recht. Er war ein Goldstück. Aber was sollte sie tun, wenn ihr Herz nicht komplett bei ihm war? Ihr stand jetzt auch nicht der Sinn nach Badeurlaub, Gelächter und abendlichen Trinkgelagen. Es wäre bestimmt lustig, aber sie fand es merkwürdig deplatziert nach allem, was sie in den letzten Stunden erlebt und erfahren hatte.

Sie suchte im Internet nach Ferienhäusern in Åraksbø. Es gab tatsächlich zwei, wenn auch keines dem Haus auf dem Foto glich. Doch sie waren bereits für den ganzen Sommer belegt. Entmutigt starrte Annika auf den Monitor. Natürlich waren sie belegt. Es waren nur noch ein paar Wochen bis zu den Sommerferien. Hatte sie wirklich gedacht, sie könnte jetzt noch ein Haus für diesen Sommer mieten? Sie suchte im Umkreis von hundert Kilometern nach einer Pension oder einem Ferienhaus, doch alles war besetzt oder viel zu teuer. Das war es dann mit ihrem schönen Plan, auf den Spuren ihrer Eltern zu wandeln und den Ort zu sehen, an dem ihr Bruder gestorben war. »Was soll’s, dann eben nächstes Jahr«, murmelte sie halblaut. Doch sie wollte nicht nächstes Jahr nach Norwegen, sie wollte jetzt.

Sie könnte campen, fiel ihr ein. Doch sie hatte keine Campingausrüstung. Sven hatte eine. Aber die brauchte er selbst, außerdem wollte sie ihn nicht darum bitten.

Schließlich rief sie bei mehreren Reisebüros an. Zweimal wurde ihr höflich erklärt, dass die Gegend ausgebucht war, doch die freundliche Dame der dritten Agentur versprach ihr, nachzusehen, ob noch irgendwo etwas machbar wäre.

Annika fand keine Ruhe. Sie war übermüdet und doch völlig überdreht. Ständig sah sie auf die Uhr. Wie lange konnte es dauern, nachzusehen, ob es in der Gegend von Åraksbø ein Ferienhaus, Appartement oder eine Pension mit freien Plätzen gab? Doch die Dame meldete sich nicht mehr.

Das Wochenende verbrachte Annika wie in Trance. Sie weinte um ihren Vater und um ihren Bruder. Sie wollte mit jemandem sprechen und wusste nicht, mit wem. Ihr stand nicht der Sinn danach, sich mit Rieke oder anderen Freundinnen auszutauschen. Mit ihrer Mutter wollte sie nicht reden, mit ihrem Vater konnte sie es nicht mehr. Iris fiel ebenso aus. Ihre Stiefmutter war nie der Typ für intime Gespräche gewesen. Sie verstanden sich einigermaßen gut, aber einen richtigen Draht hatten sie nie zueinander gefunden.

Sie war froh, als es Montagmorgen war und sie wieder zur Arbeit gehen konnte. Es lenkte sie ab. Dennoch überlegte sie ständig, was sie noch tun konnte. Es musste eine Möglichkeit geben, nach Norwegen zu fahren. Vielleicht sollte sie sich einfach ein kleines Einmannzelt kaufen und auf einem Campingplatz in der Nähe von Åraksbø Quartier beziehen. Sie freundete sich gerade mit der Idee an, als am Dienstagnachmittag ihr Handy klingelte und das Reisebüro dran war.

»Hallo Frau Rauner«, hörte sie die freundliche Stimme und ihr Herz begann aufgeregt zu klopfen. »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich habe gerade eben erst die Rückmeldung bekommen.«

»Haben Sie etwas für mich?«, fragte Annika atemlos.

»Kommt darauf an, ob Sie Einschränkungen hinnehmen wollen. Und gewillt sind, Ihren Urlaub etwas nach hinten zu schieben.«

»Welche Einschränkungen?«

»Ich habe mich erinnert, dass wir bisher immer ein kleines Haus in Åraksbø im Angebot hatten, aber dieses Jahr ist es nicht dabei. Ich habe mich mal nach dem Grund erkundigt und erfahren, dass es gerade renoviert wird und deshalb nicht zur Verfügung steht. Ich habe dem Eigentümer erzählt, wie wichtig es Ihnen ist. Schließlich meinte er, er könnte den aktuellen Arbeitsschritt bis Anfang Juli beenden. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass Sie nur zwei Räume benutzen können, kann er Ihnen das Haus anschließend überlassen. Er gibt Ihnen auch einen Preisnachlass wegen der Unannehmlichkeiten.«

»Welche Zimmer hätte ich denn zur Verfügung?«, erkundigte Annika sich.

»Schlafzimmer, Bad und das Wohnzimmer, das allerdings ziemlich groß ist und eine Küchenzeile hat.«

»Das genügt mir«, entschied sie sofort. Was brauchte sie mehr als ein Zimmer zum Schlafen und eines zum Wohnen? Besser als ein Campingplatz war es allemal. Und von der Zeit her war sie auch flexibel. Sie hatte ihren Urlaub zwar schon beantragt, aber ihr Chef würde sicher bereit sein, den Zeitraum ein wenig nach hinten zu schieben. Mit aufgeregt klopfendem Herzen sagte sie zu.