1

 

Nela war sauer. Stinksauer, um genau zu sein. Sie lag bäuchlings auf dem Bett und schlug wütend auf ihr Kissen ein. Sie konnte es einfach nicht verstehen. Sie war sechzehn und ihre Eltern behandelten sie immer noch wie ein kleines Kind. Sie machten ihr alles kaputt.
   Als es an der Tür klopfte, hielt sie inne, doch sie gab keine Antwort. Eine weitere Lektion war das Letzte, was sie jetzt nötig hatte. Doch ihr Schweigen verhinderte natürlich nicht, dass der unwillkommene Besucher eintrat.
   Sie wischte sich trotzig über die Augen. Niemand brauchte zu wissen, dass sie vor Wut und Enttäuschung beinahe heulte.
   »Magst du reden?«, fragte ihre Mutter sanft.
   Nela schüttelte den Kopf. Wozu? Das Urteil war längst gefallen und reden nützte überhaupt nichts mehr.
   »Komm schon, Nela, sei jetzt nicht bockig. Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass wir diesem Plan zustimmen würden.« Ihre Mutter setzte sich neben sie aufs Bett und strich tröstend über ihre Schulter. Sofort rückte Nela von ihr ab.
   Die Hand verschwand. »Sag mal, bist du nicht zu alt für so ein Theater?« Nun lag bereits eine deutliche Schärfe in der Stimme, doch Nela war zu aufgewühlt, um die Warnung zu registrieren.
   »Findest du?«, schnappte sie, als sie sich herumdrehte, um ihre Mutter endlich anzusehen. »Vorhin hieß es noch, ich sei zu jung. Entscheidet euch doch bitte endlich.«
   Ihre Mutter musterte sie. Nela sah den Ärger in ihren Augen, aber auch Verständnis und ein gewisses Mitgefühl. »Ach, Kind«, seufzte sie schließlich. »Hast du wirklich gedacht, wir erlauben dir, mit Larissa und Isabel nach Rom zu fahren?«
   »Ich bin alt genug, um allein Urlaub zu machen.«
   »Du bist sechzehn. Aber das ist nicht unbedingt das Problem. Larissa hat gerade mal seit zwei Wochen ihren Führerschein.«
   »Stimmt nicht. Sie hat fast ein Jahr lang begleitetes Fahren gemacht.«
   Der Blick ihrer Mutter sprach Bände. Doch sie schien entschlossen zu sein, nicht die Geduld zu verlieren. »Gut, dann formuliere ich es anders«, meinte sie mit fester Stimme. »Larissa darf seit genau zwei Wochen alleine fahren und du glaubst wirklich, wir lassen dich mit ihr nach Italien?«
   »Sie fährt gut.«
   »Das bezweifle ich ja gar nicht. Aber weißt du überhaupt, wie weit es bis Rom ist?«
   »860 Kilometer.« Mit solchen Fragen konnte ihre Mutter sie nicht austricksen. Nela und ihre Freundinnen hatten die Route schon genau festgelegt.
   »Eben.« Ihre Mutter seufzte. »Warum muss es denn gleich Rom sein? Könnt ihr nicht einfach irgendwo zelten gehen? Es gibt so viele schöne Seen in der Gegend. Meinetwegen könnt ihr auch nach Österreich, das ist nicht allzu weit. Du bist doch
sowieso eher der Typ für Badeurlaub als für kulturelle Sachen wie Rom.«
   »Zelten ist so was von out«, murmelte Nela unwillig. Im Prinzip hatte ihre Mutter recht. Sie ging lieber baden als ein Kulturprogramm abzuspulen. Aber das war nicht der Punkt. Wie sollte sie ihrer Mutter begreiflich machen, was dieser Urlaub mit Larissa für sie bedeutete? Es war Larissas Idee gewesen und Nela hatte nicht einen Moment lang daran gezweifelt, dass ihre Eltern ihr den Trip erlauben würden.
   »Warum seid ihr so gemein?«, schniefte sie.
   »Das hat nichts mit gemein zu tun, Nela«, sagte ihre Mutter verständnisvoll. »Natürlich darfst du mit deinen Freundinnen allein Urlaub machen, aber es ist ein Unding, dass Larissa diese Strecke fährt. Und dann auch noch Rom. Italien ist ein ganz anderes Pflaster, das weißt du doch. Erinnerst du dich, wie Papa da ins Schwitzen gekommen ist? Und da hatte er schon seit fast zwanzig Jahren den Führerschein. Glaub mir, ihr habt keine Ahnung, worauf ihr euch da einlasst. Larissa fehlt einfach die Erfahrung dafür. Ich bezweifle auch, dass ihre Eltern so begeistert von der Idee sind.«
   »Sie haben es ihr erlaubt«, protestierte Nela halbherzig. Sie wusste, dass sie auf verlorenem Posten stand. Und irgendwie konnte sie ihre Eltern sogar verstehen, auch wenn sie das nie zugegeben hätte. Sie erinnerte sich noch an den denkwürdigen Urlaub in Italien, als sie sich in einer Großstadt verfahren hatten. Nela hatte damals einige Ausdrücke gelernt, die nicht unbedingt die Zustimmung ihrer Mutter gefunden hatten. Die Anspielung, dass ihr sonst so stoischer Vater fast die Nerven verloren hatte, ließ Nela innerlich grinsen. Prompt verrauchte ihr Ärger. Zumindest ein ganz klein wenig.
   »Vielleicht könnt ihr euch auf ein Ziel einigen, das etwas näher liegt, und mit dem Zug fahren?«, schlug ihre Mutter vor.
   Nachdenklich zupfte Nela an ihren Haaren. Der ganze Plan war nur entstanden, weil Larissa das neue Auto, das ihr Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, auf einer langen Strecke ausprobieren wollte. Natürlich wollte sie auch damit angeben, aber das war okay. Nela fand es cool, dass ihre Freundin schon ein eigenes Auto besaß.
   Sie schüttelte den Kopf. »Darauf lässt sie sich nie ein.«
   »Dann tut es mir leid.« Ihre Mutter stand auf. »Es ist schade, dass Papa keinen Urlaub kriegt und wir nicht gemeinsam wegfahren können, aber Italien ist gestrichen.«
   »Ich kann doch nicht sechs Wochen lang hier herumhocken.« Die Verzweiflung, die Nela in ihrer Stimme hörte, war durchaus echt. Warum mussten ihre Eltern so übervorsichtig sein? Larissa fuhr wirklich gut und sie hatte überhaupt keinen Bammel vor den italienischen Straßen, auch nicht vor Rom. Isabels Eltern waren bestimmt nicht so engstirnig.
   »Wie wäre es dann, wenn du ein oder zwei Wochen zu Tante Lisa nach Langenfelden fährst?«, schlug ihre Mutter zögernd vor.
   Mit offenem Mund starrte Nela sie an. »Das kann doch nicht dein Ernst sein, Mama. Du willst mich nach Langenfelden schicken? In dieses Kaff hinterm Mond? Da kann ich mich ja gleich begraben lassen. Ich hab keinen Bock auf Urlaub auf dem Bauernhof.«
   »Jetzt übertreib nicht. Du weißt genau, dass Tante Lisa keinen Bauernhof hat. Außerdem ist Langenfelden nicht hinterm Mond. Die nächste Stadt ist doch nur ein paar Kilometer entfernt. Da gibt es bestimmt genug Diskotheken und Kinos, in die du gehen kannst.« Ihre Mutter wandte sich zur Tür. »Überlege es dir. Hier oder bei Tante Lisa. Viel mehr Möglichkeiten hast du leider nicht.«
   Wie betäubt blieb Nela sitzen. Ferien auf dem Dorf. So etwas konnte nur ihr passieren. Was sollte sie nur tun? Schniefend stand sie auf. Sie musste jetzt unbedingt zu Larissa und Kriegsrat halten.

 

Als sie ihr Fahrrad aus der Garage holte, bedauerte sie wie jedes Mal, dass Larissa nun so weit entfernt wohnte. Es waren nur knapp zehn Minuten, die sie radeln musste, aber das war schon zu viel. Larissa hatte mit ihren Eltern im Nachbarhaus gewohnt und die Mädchen waren zusammen aufgewachsen. Aber Larissas Eltern hatten sich im letzten Jahr scheiden lassen und das Haus verkauft. Ihre Mutter war mit den zwei Töchtern in eine kleine Mietwohnung gezogen. Larissa hatte sich sehr gegen die Umstellung gewehrt, doch schließlich musste sie sich damit abfinden. Immerhin wusste sie die Situation für ihre eigenen Bedürfnisse zu nutzen. Ihr Vater schien ein schlechtes Gewissen zu haben und war seit der Scheidung eher zu großzügigen Spenden aufgelegt. Nela war sicher, dass Larissa sonst kein Auto bekommen hätte. Sie grinste. Schade, dass es bei ihren Eltern nicht funktionierte, sie gegeneinander auszuspielen. Natürlich fanden sie es auch nicht gut, dass Larissas Vater seiner Tochter zum achtzehnten Geburtstag ein Auto vor die Tür gestellt hatte. Sie mutmaßten sogar, dass er es nur getan hatte, um seine Ex-Frau zu ärgern, aber das war Schwachsinn. Larissas Vater wollte seiner Tochter einfach eine Freude machen. Nela beneidete ihre Freundin. Auch wenn die Scheidung schlimm für sie gewesen war, konnte sie sich jetzt viel mehr erlauben und bekam von ihrem Vater ständig tolle Sachen geschenkt.
   Seufzend stellte sie ihr Fahrrad in den Ständer vor dem Hochhaus und sperrte es sorgfältig ab. Als ein älterer Mann aus der Haustür trat, nahm sie die Gelegenheit wahr und schlüpfte hinein. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend lief sie in den vierten Stock hinauf und klingelte an der Wohnungstür. Hoffentlich war ihre Freundin überhaupt daheim.
   Larissas kleine Schwester öffnete.
   »Hallo Britta, ist Larissa da?«
   »Hmm. In ihrem Zimmer. Isabel ist da.« Desinteressiert wandte sich das Mädchen ab und überließ es Nela, die Tür zu schließen.
   Für einen Moment überlegte sie, ob sie ungesehen wieder verschwinden sollte. Natürlich war Isabel da. Sie fühlte einen heißen Stich in der Herzgegend. Isabel wohnte seit zwei Monaten im Stockwerk unter Larissa und in letzter Zeit ging anscheinend nichts mehr ohne sie. Immer, wenn sie zu Larissa kam, war Isabel schon da. Ausgehen kam nur noch zu dritt infrage und ständig steckten die zwei Mädchen die Köpfe zusammen und tuschelten. Nein, Nela war bestimmt nicht eifersüchtig, sie wollte nur ihre beste Freundin nicht verlieren. Wenn Larissa und Isabel ohne sie zwei Wochen in Urlaub fuhren, würde sie noch mehr ins Abseits geraten. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Das Schlimmste daran war noch, dass sie Isabel eigentlich mochte. Sie war immer fröhlich und hatte nicht diese gönnerhafte Überheblichkeit, die Larissa Nela gegenüber manchmal an den Tag legte.
   Sie klopfte leise an Larissas Zimmertür. Als sie hinein lugte, sah sie Isabel neben ihrer Freundin am Computer sitzen. Für Nela war da jetzt natürlich kein Platz mehr.
   »Hallo Süße, komm rein«, rief Larissa fröhlich. »Das muss Gedankenübertragung gewesen sein. Ich wollte dich eben anrufen, ob du Zeit hast. Wir suchen gerade nach Übernachtungsmöglichkeiten. Was meinst du, sollen wir Bed & Breakfast nehmen oder uns ein schickes Hotelzimmer leisten? Ist natürlich ein bisschen blöd, ein Zimmer für drei Leute, aber es gibt Doppelzimmer, wo man ein Zusatzbett buchen kann. Damit du nicht auf dem Boden schlafen musst.«
   Es war so klar, dass sie das Zusatzbett bekommen würde, während sich Isabel das Doppelbett mit Larissa teilen durfte. Fast freute sich Nela, dass sie einen Strich durch diese Rechnung machen konnte. Aber nur fast.
   »Ich darf nicht mit«, ließ sie die Bombe platzen, als Larissa Luft holen musste.
   »Was? Echt jetzt?« Isabel sah sie mit ehrlichem Bedauern an, während Larissa sie nur mit offenem Mund anstarrte.
   »Du darfst nicht mit?«, wiederholte sie dann ungläubig. »Aber warum denn nicht? Ich werde schon gut auf dich aufpassen, das wissen deine Eltern doch.«
   »Das ist es nicht. Sie finden, Rom ist zu weit weg und du hast erst seit zwei Wochen den richtigen Führerschein.«
   Larissa lachte laut. »Sie glauben wohl, dass ich nicht fahren kann. Also, wenn es das ist, können sie gerne eine Probefahrt mit mir machen.«
   »Das wird sie auch nicht umstimmen. Vielleicht könnten wir mit dem Zug fahren?« Nela erwähnte noch nicht, dass ihre Mutter auch ein näheres Ziel vorgeschlagen hatte. Möglicherweise konnte es einen Kompromiss geben. Sie fuhren mit dem Zug und Rom durfte bleiben.
   »Kommt nicht in die Tüte«, schnaubte Larissa. »Das ist doch der Witz an der Sache, dass wir mit dem Auto losdüsen. Zug kann schließlich jeder.«
   Nela seufzte, als sie sich setzte. »Dann müsst ihr ohne mich fahren.«
   »Keine Chance, deine Eltern umzustimmen?«, fragte Isabel mitfühlend.
   Nela schüttelte den Kopf. »Ich habe schon alles versucht. Sie meinten, wir sollten stattdessen zelten gehen oder ich soll meine Tante auf dem Land besuchen.«
   »Auweia.« Larissa zog den Kopf ein und grinste. »Ich sehe dich schon beim Kühemelken. Ist sicher genauso aufregend wie das Kolosseum anzuschauen.«
   Isabel puffte sie in die Seite. »Sei nicht so gemein«, rügte sie die Freundin. »Du musst es ihr nicht noch extra schwer machen.«
   »Hast recht«, lenkte Larissa ein. »Tut mir leid, Süße, aber auf dem Land versauerst du doch. Das ist kein Urlaub für dich. Da kannst du ja gleich hierbleiben.«
   »Ich weiß nicht.« Nela verzog gequält das Gesicht. Sie hatte insgeheim gehofft, dass eines der Mädchen das Stichwort Zelten aufgreifen würde, und sie sich am Ende darauf einigen könnten. Aber dem schien nicht so zu sein und direkt nachfragen wollte sie nicht. »Hier ist im Sommer doch auch nichts los.«
   »Ich weiß, was wir machen«, rief Larissa begeistert. »Du erzählst deinen Eltern, dass du zu deiner Tante fährst, und kletterst auch brav in den Zug, aber dann steigst du bei der ersten Haltestelle aus, wir holen dich dort ab und brausen nach Rom. Voilà.«
   Isabel schüttelte den Kopf. »Hervorragender Plan«, lächelte sie nachsichtig. »Weil Nelas Tante sich ja auch überhaupt nichts dabei denkt, wenn sie nicht auftaucht und auch gar nicht ihre Eltern darüber informiert.«
   »Stimmt.« Larissa zog die Stirn in Falten. »Vielleicht müssten wir deine Tante in unseren Plan einweihen. Meinst du, sie würde den Spaß mitmachen?«
   »Das ist kein Spaß.« Wieder war Isabel die Stimme der Vernunft.
   »Ich glaube nicht, dass Tante Lisa meine Eltern so hintergehen würde«, warf Nela ein. »Sie würde mir eher gut zureden, den Blödsinn sein zu lassen.«
   »Dann müssen wir deine Leute einfach vor vollendete Tatsachen stellen«, sinnierte Larissa. »Wir rufen sie von Rom aus an und sagen ihnen, sie sollen sich keine Sorgen machen.«
   »Genau. Und den Hurrikan, der sie dann daheim erwartet, darf Nela allein ausbaden, wie?« Isabel lachte. »Ich kann nur hoffen, dass du das alles nicht ernst meinst.«
   »Ich wäge nur unsere Möglichkeiten ab.«
   »Aber blöderweise funktioniert keine davon.« Nela seufzte. »Ihr müsst mir einfach jede Menge Fotos schicken. Am besten an meine E-Mail-Adresse. Ich darf bestimmt an den Computer meiner Tante, um sie mir anzusehen.«
   »Kannst du sie nicht auf deinem Handy anschauen?«
   »Doch, klar, aber nicht so viele. Und ich erwarte eine Flut von Fotos.«
   »Machen wir«, stimmte Isabel zu. »Und wir schreiben dir ständig in WhatsApp, was wir tun, damit du auf dem Laufenden bleibst.«
   »Geht nicht«, seufzte Nela. Sie hasste es, erneut einen Mangel erwähnen zu müssen. »Ich habe doch kein Smartphone mehr. Die alte Kröte meiner Mutter kann keine Apps.«
   »Auch nicht schlimm. Dann machen wir es eben über Facebook. Ins Internet kannst du doch?«
   »Ja, wie gesagt, über den Computer meiner Tante.« Wie zirka zehn Mal am Tag verwünschte sich Nela dafür, dass sie im letzten Monat unbedingt während des Fahrradfahrens auf ihr Smartphone hatte sehen wollen. Natürlich war es ihr aus der Hand gerutscht und selbstverständlich so auf den Boden geknallt, dass das Display gesplittert war. Das Gerät war völlig unbrauchbar geworden. Ihre Mutter hatte die Tragödie nur mit einem Schulterzucken abgetan und ihr gönnerhaft ihr uraltes Ersatz-Handy zur Überbrückung angeboten, bis Nela sich wieder ein Smartphone leisten konnte. Eventuell könne sie sich ja zum Geburtstag eines wünschen, meinten ihre Eltern, doch der war erst im Oktober. Ihre Kommunikationsmöglichkeiten wiesen jetzt schon deutliche Defizite auf. So konnte es wirklich nicht weitergehen. Wieder bedauerte Nela es, dass ihr Vater nicht so gönnerhaft war wie Larissas. Ihre Freundin hätte bestimmt sofort ein neues Smartphone bekommen.
   »Zeigt mir mal die Hotelzimmer«, lenkte sie seufzend ab. »Damit ich wenigstens weiß, wo ihr dann seid.«
   »Mal sehen.« Larissa wandte sich wieder ihrem Computer zu. »Wenn du nicht mitfährst, haben wir ja jetzt viel mehr Auswahl.«
   Ihre gedankenlose Bemerkung traf Nela mitten ins Herz. Larissa bemerkte es nicht, doch Isabel wandte sich um und lächelte ihr wissend zu.

 

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(hier folgt Nelas erste Begegnung mit Patrick ..., in der Leseprobe leider nicht enthalten smiley)

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Sie steckte das Handy weg und stand auf. Vielleicht sollte sie Lisas Auftrag erledigen, um sich abzulenken. Viel Lust hatte sie zwar nicht, aber sie hatte es ihrer Tante versprochen und im Gegensatz zu Larissa war sie zuverlässig.
   Als sie Lisas Fahrrad aus der Garage holte, spürte sie einige Regentropfen. Prüfend sah sie zum Himmel hinauf. Er war grau, sah aber nicht bedrohlich aus. Sie überlegte, ob sie die Fahrt verschieben sollte, schalt sich dann aber eine Memme. Ein paar Tropfen brachten sie nicht um, sogar, wenn es schlimmer werden sollte.
   Sie trat kräftig in die Pedale und schickte öfters einen misstrauischen Blick zum Himmel. Das diffuse Grau hatte sich schlagartig verdunkelt. Immer mehr Wolken türmten sich zu Bergen auf und das Nieseln wurde stärker. Nela radelte schneller, obwohl sie bereits außer Puste war. Die Strecke erschien ihr ewig lang zu sein, vor allem, weil es hinter Langenfelden leicht bergauf gegangen war. Doch schließlich hatte sie den Dorfrand von Weiden erreicht. Sie musste zu dem großen Bauernhaus rechts nach der ersten Kurve, hatte Lisa ihr erklärt.
   Da war es auch schon. Nela lehnte das Fahrrad an die Hauswand, holte die Tasche mit den Büchern aus dem Korb und klingelte. Und in diesem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen.

 

 

4

 

Zwei Stunden später saß sie in einer großen Wohnküche und versuchte, ein Pferd zu malen.
   »Ih, das sieht eher aus wie ein Schwein«, lachte Florian, der fünfjährige Sohn der Merkerts, sie aus.
   »Bei meinen Zeichenkünsten bin ich froh, dass es überhaupt nach etwas aussieht.« Lächelnd drückte Nela dem Jungen seine Wachsmalstifte in die Hand und verlangte, er solle ihr ein schönes Pferd malen.
   Frau Merkert lächelte. »Du solltest dich nicht so sehr von ihm vereinnahmen lassen. Du bist schließlich nicht hergekommen, um mit den Kindern zu spielen.«
   Das hatte Nela wirklich nicht vorgehabt. Sie wollte auch nicht so lange bleiben. Nur die Bücher abgeben und schnell wieder zurück, war ihr Plan gewesen. Aber Frau Merkert hatte das nicht zugelassen.
   »Schau nur, wie’s regnet. Du wirst ja klatschnass, wenn du gleich zurückfährst.« Die resolute Frau hatte sie energisch in den Flur gezogen und die Tür geschlossen. »Mein Auto ist leider in der Werkstatt, sonst könnte ich dich schnell heimfahren. Aber vorerst steckst du hier fest. Jetzt trinken wir erst einmal Kaffee, oder was immer du haben willst, und dann sehen wir weiter.«
   Nela hatte nachgegeben. Die Aussicht, im strömenden Regen zu radeln, war wirklich nicht sehr reizvoll gewesen. Frau Merkert hatte ihr ein großes Glas Fruchtsaft eingeschenkt und ihr ein Stück Kuchen angeboten. Sie hatte dann mit Florian und seinen zwei Geschwistern, den neunjährigen Zwillingen Lukas und Sebastian, Mensch ärgere dich nicht gespielt, bis es den zwei Ältesten langweilig geworden war und sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatten. Nur Florian hatte weiterhin ihre Aufmerksamkeit beansprucht. Es war das erste Mal, dass sich Nela so intensiv mit Kindern abgab und sie stellte erstaunt fest, dass es ihr Spaß machte.
   »Du kannst gut mit Kids«, meinte Frau Merkert lächelnd.
   »Scheint so.« Nela lobte Florian für die merkwürdige Strichgestalt, die ein Pferd darstellen sollte. »Am besten malst du gleich noch ein Pferd dazu, damit es nicht so einsam ist.« Sie sah nach draußen. Endlich schien der Regen nachzulassen. Es waren schon vereinzelte helle Streifen am Himmel sichtbar.
   Nach einer weiteren Viertelstunde durfte sie dann aufbrechen.
   »Mein Mann könnte dich heimfahren«, schlug Frau Merkert vor. »Er kommt in etwa einer halben Stunde. Möchtest du nicht noch so lange warten?«
   »Das ist wirklicht nicht nötig«, beteuerte Nela. »Das ist mit dem Fahrrad viel zu umständlich. Ich brauche ja nur ein paar Minuten.«
   »Bleib doch noch.« Florian klammerte sich an ihr Bein. »Wir müssen noch einen Stall für die Pferde malen und eine Wiese.«
   Frau Merkert lächelte. »Da hast du wirklich einen Fan gefunden.« Sie nahm ihren Sohn auf den Arm. »Nela kann ja vielleicht einmal wiederkommen, wenn sie Lust hat«, tröstete sie ihn.
   »Und bis dahin malst du den Stall und die Wiese, abgemacht?« Nela strich dem Jungen kurz über den Arm und stieg dann auf ihr Fahrrad.
   »Pass gut auf dich auf«, ermahnte Frau Merkert sie noch. »Bei einem solchen Wetter kann es in dieser Gegend gefährlich sein.«
   Nela nickte nur und fuhr los. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die Frau gemeint hatte. Gefährlich war es auf diesem kurzen Stück Weg gewiss nicht. Trotzdem ging ihr Frau Merkerts besorgter Blick nicht aus dem Sinn.
   Sie ließ sich Zeit. Der Himmel bot ein faszinierendes Schauspiel, wie sie es noch nie gesehen hatte. Oder sich noch nie die Zeit genommen hatte, zu beobachten. Zwischen vielschichtigen grauen und schwarzen Wolkenbergen schimmerten hellgrüne Streifen Tageslicht hindurch und erhellten die schnell vorbeiziehenden Wolken wie von innen heraus. Nela genoss die Fahrt und die klare Luft und konnte wirklich nichts Beunruhigendes dabei finden.
   Doch plötzlich hörte sie ein Geräusch. Zuerst dachte sie, es käme von ihrem Fahrrad. Aber als sie anhielt und abstieg, vernahm sie es immer noch. Es klang wie das laute Hecheln eines Hundes. Sie sah sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen. Wo war dieser Hund? Etwas mulmig war ihr schon, so allein auf der Landstraße bei diesem seltsamen, diffusen Licht. Es war allerdings hell genug, um zu sehen, dass sie wirklich allein war. Ganze zwei Autos hatten sie während der Fahrt überholt.
   Das Hecheln wurde lauter. Nela hatte das Gefühl, als würde sich ein großer Hund in ihrer unmittelbaren Nähe befinden. Sie ging zur anderen Straßenseite hinüber und sah über die Böschung. Etwa fünfzig Meter entfernt lief unterhalb der Straße ein Feldweg parallel, aber auch dort war niemand unterwegs. Bei diesem Wetter führte doch keiner seinen Hund spazieren. Sie suchte mit den Augen die angrenzenden Wiesen ab, aber es war alles friedlich. Trotzdem hörte sie immer noch das Hecheln. Es musste etwas anderes sein. Aber was? Nichts in der Umgebung konnte ein solches Geräusch hervorbringen. Während sie wieder zu ihrem Fahrrad lief, sah sie sich aufmerksam um. Es musste ein Hundehecheln sein, doch wo war der Hund dazu? Duckte er sich vielleicht ins Gras und war so klein, dass sie ihn nicht sah? Aber so hörte es sich nicht an. Es war ein lautes Geräusch, das irgendwie deplatziert wirkte. Plötzlich war das Hecheln genau vor ihr, als würde ein unsichtbarer Hund direkt neben ihrem Vorderrad stehen. Eine Gänsehaut kroch über Nelas Rücken, als sie hastig auf ihr Fahrrad stieg. Das war ihr nun doch einen Tick zu unheimlich. Sie wollte nur noch weg von hier. Aber so schnell sie auch fuhr, das Hecheln blieb bei ihr. Es wurde sogar noch lauter. Und dann durchdrang ein Heulen den düsteren Nachmittag. Ein schauriges, gespenstisches Heulen, das sie bis ins Mark erschreckte. So mussten sich Wölfe anhören, bevor sie ihre Opfer anfielen. Aber hier gab es doch keine Wölfe. Oder etwa doch? Sie schluckte trocken. Es konnte ja wohl nicht sein, dass sie hier zwischen zwei Ortschaften von einem Wolf angegriffen wurde.
   »Nela, du fängst an zu spinnen«, sagte sie laut. Der Klang ihrer Stimme beruhigte sie etwas. Dennoch klopfte ihr Herz wie rasend. Nach dem Heulen hörte sie wieder das Hecheln und nun erneut genau hinter sich. Gehetzt warf sie einen Blick zurück und wäre fast gestürzt, als sie dabei den Lenker verriss. Nur mit Mühe konnte sie sich auf der Straße halten. Der scharfe Wind trieb ihr Tränen in die Augen, als sie so schnell in die Pedale trat, dass ihr Herz zu zerspringen drohte. Etwas war hinter ihr her. Ganz deutlich hatte sie zwei gelbe Lichter gesehen. In der Form von Augen. Augen, die wild glühten. Sonst nichts. Da war kein Körper, nur Glutpunkte in der Luft, die sie zu verfolgen schienen. Es war unheimlich. Und immer wieder ein Heulen wie von einem großen Hund. Ihr Verstand sagte ihr, dass das alles nicht sein konnte, dass Geräusche nicht aus dem Nichts entstehen konnten und Augen ohne Körper unmöglich waren, doch ihr Instinkt ließ sie panisch reagieren. Nun hörte sie auch noch das Tappen von Pfoten auf der nassen Straße, das hohl und schaurig widerhallte. Auch sehr große Hundepfoten machten keinen solchen Krach. Das Tappen klang, als würde der Hund durch tiefe Pfützen auf der Straße platschen. Nela traute sich nicht mehr, sich umzudrehen. Keuchend vor Anstrengung spornte sie ihre Beine zu noch schnellerem Treten an. Sie versuchte, sich zu beruhigen, indem sie sich laut vorsagte, dass ihr nichts passieren konnte, doch ihre Panik ließ sich durch keinen noch so vernünftigen Grund beschwichtigen. Egal, was das hinter ihr war, es war einfach nur unheimlich. Warum kamen denn keine Autos mehr? Warum war hier kein einziger Mensch unterwegs? Nela fühlte sich mutterseelenallein. Allein mit diesen geisterhaften Geräuschen, die immer näher kamen. Sie wollte sich die Ohren zuhalten, um das schaurige Heulen nicht mehr hören zu müssen, doch sie wagte es nicht, den Lenker loszulassen. In wahnsinniger Fahrt raste sie die leicht abschüssige Straße hinunter und doch schien es Ewigkeiten zu dauern, bis sie das Ortsschild von Langenfelden erreichte. Und in diesem Moment hörte der Spuk auf. Das Hecheln verstummte und das nervenzerfetzende Tappen der Pfoten verschwand. Totenstill war es plötzlich. Unheimlich still. Nela hielt an, nahm ihren ganzen Mut zusammen und drehte sich um. Beinahe erwartete sie, dass ein wildes Tier genau hinter ihr stand, bereit, sie zu fressen, wie sie es schon oft im Fernsehen in diversen Thrillern gesehen hatte. Doch da war nichts außer der verlassenen Straße und grünen, idyllischen Wiesen. Nirgendwo war auch nur die Spur einer Bewegung, geschweige denn eines Tieres zu sehen. Zitternd atmete sie tief durch und versuchte vergeblich, ein Frösteln zu unterdrücken. Sie hätte schwören können, dass sie die ganze Zeit von einem großen Hund verfolgt worden war. Von einem Hund ohne Körper, aber mit zwei bedrohlich glimmenden Augen.
   Sie hatte nicht mehr die Kraft, auf das Fahrrad zu steigen. Langsam schob sie es neben sich her, während sich ihr Herz und ihre Atmung wieder beruhigten. Auch ihre Gedanken wurden wieder rationaler. Es konnte ja schlecht ein Geist gewesen sein. Vielleicht hatten sich Jugendliche einen Spaß erlaubt. Mit der heutigen Technik dürfte es nicht schwer sein, Abspielgeräte so in der Wiese am Straßenrand zu deponieren, dass Fußgänger und Radfahrer meinten, von einem wilden Tier verfolgt zu werden. Wahrscheinlich lagen irgendwo in sicherer Entfernung ein paar Halbwüchsige im Gras und lachten sich über ihre Panik halb tot. Nela nickte bekräftigend. Genau so musste es sein. Deshalb hatte das Hecheln und Heulen auch so hohl und dumpf geklungen. Weil es von einem Abspielgerät kam, vielleicht von einem alten Kassettenrekorder. Auch die tanzenden Lichtpunkte ließen sich sicher irgendwie erklären. Bestimmt gab es entsprechende Apps für Smartphones. Nela kam sich plötzlich unglaublich dumm vor, dass sie so bereitwillig in die Falle getappt war. Am liebsten wäre sie umgedreht, um die Übeltäter zu suchen. Doch dafür hatte sie keine Zeit. Sagte sie sich zumindest, denn es bestand ja immerhin eine geringfügige Chance, dass es doch ein Geist gewesen war.

 

Lisa war noch nicht da, als Nela kurz darauf das Haus erreichte. Sorgfältig räumte sie das Fahrrad in die Garage und ging hinein. Trotz der logischen Erklärung, die sie sich selbst gegeben hatte, ging ihr Atem immer noch schnell und ihr Herz begann gegen ihre Rippen zu klopfen, als sie an das grausige Heulen dachte. Aus jeder Ecke schienen sie gelbe Augen anzustarren, die erst verschwanden, als Nela einige Male tief durchatmete und ihr eigenes Verhalten laut als idiotisch bezeichnete. Sie überlegte kurz, ob sie Larissa anrufen und von ihrem Erlebnis berichten sollte. Ihre Freundin kannte sich bestens mit allen möglichen Apps aus. Wenn es etwas gab, womit man ahnungslose Passanten erschrecken konnte, würde sie es wissen. Nela ließ sich auf die Couch fallen, aber statt zu ihrem Handy griff sie nach der Fernbedienung. Es war besser, anzurufen, wenn sie sich beruhigt hatte und über das Erlebte lachen konnte. Wenn Larissa merkte, wie erschüttert Nela von dem Ereignis war, hätte sie genug Munition, um ihre Freundin auf ewig wegen ihrer Gutgläubigkeit und Schreckhaftigkeit zu hänseln.
   Passenderweise lief im Fernsehen die Wiederholung einer Gruselserie, die Nela früher gern gesehen hatte. Aber das konnte sie jetzt absolut nicht brauchen. Sie zappte durch die Programme, bis sie im Kinderkanal einen Zeichentrickfilm fand, bei dem sie hängenblieb. Langsam kehrte sie in die Realität zurück und nach einer Weile schaffte sie es sogar, die Augen zu schließen, ohne sofort tanzende Glutpunkte zu sehen.


Krachend fiel die Haustür ins Schloss. Mit einem lauten Schreckensschrei fuhr Nela hoch, als sie Lisas fröhliche Stimme hörte.
   »Nela, bist du da?« Ihre Tante erschien in der Zimmertür. »Sorry, dass ich so spät komme, kurz vor Schluss war noch die Hölle los.« Lisa musterte sie besorgt. »Geht es dir gut, Nela? Du bist so blass. Hast du einen Geist gesehen?«
   Nela lachte gezwungen. »Ja, dich. Vielleicht bin ich am Fernseher eingedöst, aber ich bin furchtbar erschrocken, als die Tür zuknallte.«
   »Der Wind hat sie mir aus der Hand gerissen. Tut mir leid. Es ist aber auch ein schreckliches Wetter. Und dabei so dunkel. Kaum zu glauben, dass es mitten im Sommer ist. Warst du drüben in Weiden?«
   Nela berichtete Lisa haarklein von ihrem Besuch bei den Merkerts, ihr Erlebnis auf dem Heimweg verschwieg sie ihr jedoch. Sie wollte nicht, dass Lisa sich aufregte über die dummen Jugendlichen, die den Streich ausgeheckt hatten. Am Ende machte sie sich noch auf, um nach der Ursache für die Erscheinung zu suchen. Oder sie musterte sie mit diesem Blick, den Erwachsene auf Lager haben, wenn sie einer Geschichte keinen Glauben schenken, das aber nicht so deutlich äußern wollten. Außerdem schien in der gemütlichen Atmosphäre von Lisas Haus alles so unwirklich, dass Nela tatsächlich überlegte, ob sie sich vielleicht alles nur eingebildet hatte. Womöglich waren ja nur zwei verliebte Glühwürmchen unterwegs gewesen und das Hecheln und Heulen war, angeregt von Frau Merkerts unheilvollen Worten, nur ihrer Fantasie entsprungen.