Glücksfaserrisse - Leseprobe


Im Haus brannte noch Licht, als Gerry eine knappe Stunde später Corinnas Polo in der Einfahrt parkte. In aller Ruhe sperrte er die Haustür hinter sich ab, streifte die Schuhe von den Füßen und schlenderte ins Wohnzimmer, wo sein Vater auf ihn wartete.

»Wacht die Obrigkeit darüber, wann ich heimkomme?«

»Ich dachte mir, dass es nicht mehr so lange dauern kann.« Sein Vater deutete auf die Flasche Mineralwasser, die auf dem Tisch stand. »Magst du?«

»Nein, danke.« Gerry ließ sich auf die Couch fallen. »Ich habe mir fast gedacht, dass du auf mich wartest.«

»Klar. Es interessiert mich schon, warum du auf einmal deinen alten Vater verleugnest und mich nur als Freund vorstellst.«

»Ich bin doch nicht verrückt, Mensch. Die Mädels hätten mich in Stücke gerissen. Die eine ist total verknallt in dich und die andere kriegt anscheinend Ausschlag, wenn sie einen Rollstuhl sieht. Ich setze mich doch nicht in die Nesseln und sage denen, dass du mein Vater bist. Dann würde ich jetzt noch dort stehen und versuchen, mich zu rechtfertigen.«

Sandie lehnte sich grinsend zurück. »Welche ist in mich verknallt, sagtest du?«

»Yvonne. Ich habe fünf Minuten zugebracht, um ihr klarzumachen, dass du zu alt für sie bist.«

»Danke. Sehr fürsorglich. Hast du ihre Adresse?«

»Die kriegst du bestimmt nicht. Glaubst du, ich will Krach mit Mama?« Gerry stand auf und reckte sich. »Warum warst du eigentlich da? Ich dachte, ihr wart bei Andis Eltern eingeladen.«

»Claudia hat kurzfristig abgesagt. Sie fühlte sich nicht besonders. Mama übrigens auch nicht, sonst wäre sie mitgegangen. Vielleicht ist irgendein Virus unterwegs. Ich habe dann ein paar Kollegen mobilisiert. Aber sag mal, Michaela, das ist deine neue Freundin, nicht wahr? Die zwei Minuten lang ihre Jacke auf dem Boden gesucht hat, nachdem sie sie ganz unabsichtlich vom Stuhl gestreift hat.«

Gerry schnaubte. »Dir entgeht aber auch nichts.«

»Lade sie doch mal zu uns ein.«

Das Schnauben wurde zu einem ungläubigen Huster. »Du gehst wohl keiner Konfrontation aus dem Weg, wie?«

»Vielleicht können wir ihre Vorurteile ein wenig abbauen.«

Gerry kaute auf seiner Unterlippe. »Zuerst will ich herausfinden, warum sie sich derart bescheuert benimmt.« Er gähnte herzhaft. »Aber nicht, bevor ich sie besser kenne. Und jetzt muss ich in die Falle. Gute Nacht.«

»Schlaf gut.«

 

Als Sandie sich in sein Bett umsetzte, blinzelte Corinna. »Hattest du einen schönen Abend?«

Er wandte sich zu ihr um. »Habe ich dich geweckt? Dabei war ich doch echt leise.«

»Nein, du hast mich nicht geweckt.« Sie strich ihm über den nackten Rücken. »Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht besonders gut einschlafen kann.«

Sandie beugte sich zu ihr und küsste sie. »Geht es dir besser?«

»Ja, danke.« Corinna warf einen kurzen Blick auf die Uhr. »Ist Gerry auch schon zu Hause?«

»Er kam kurz nach mir.« Sandie schob seine Beine unter die Bettdecke und streckte einen Arm nach seiner Frau aus. Behaglich kuschelte sie sich an seine Schulter.

»Hast du seine Freundin auch gesehen?«

»Ja. Ein sehr hübsches Mädchen. Allerdings weiß ich nicht, ob sie wirklich seine Freundin wird.«

»Wieso das denn?«

Sandie lachte verhalten. »Na ja, sie scheint diese Schwellenangst Behinderten gegenüber zu haben. Und das passt Gerry nicht.«

»Natürlich nicht. Er nimmt das persönlich. Merkt man es ihr tatsächlich so deutlich an?«

»Sie ist einer der schlimmsten Fälle, die ich je getroffen habe. Sie ist lieber auf dem Boden herumgekrochen, als mich anzuschauen.« Zärtlich streichelte er ihre Wange. »Ich bin froh, dass du da anders bist.«

Sie kicherte. »Ich habe keine Probleme damit, dich anzuschauen. Und das gilt für alle Teile deines Körpers.«

»Da bin ich ja beruhigt.« Sandie drückte sie an sich. »Übrigens wird es morgen auch wieder später.«

»Irgendeine Verabredung, von der ich wissen sollte?«

»Große Feier im Betrieb.« In gespielter Ergebenheit schloss Sandie die Augen. »Die alte Henne geht in Rente.«

»Du meinst Frau Hahn?«, rügte Corinna mit aufgesetzter Strenge.

»Sage ich doch. Halleluja. Friede ihrer Asche.«

»Sandie.« Sie boxte ihn spielerisch in die Rippen. »So spricht man nicht von der Sekretärin des Chefs.«

»Für neunzig Prozent der Firma wird es keine Abschieds- sondern eine Freudenfeier.«

»Jetzt übertreib mal nicht. So schlimm ist Frau Hahn wirklich nicht.«

»Sie ist ein alter Drachen«, widersprach Sandie vehement. »Und sie hat Hanke bewacht wie ein Ei, das sie gerade ausbrütet. Leichter kriegt man eine Audienz beim Papst, als an ihr vorbei zum Chef zu kommen.«

Corinna schmunzelte. »Weißt du schon, wer ihre Nachfolge antritt?«

»Hanke sagte etwas von einer Spitzenkraft. Soll angeblich eine Bekannte von ihm sein. Da haben wir die Vetternwirtschaft schon wieder zusammen. Na ja, wir werden sehen. Schlimmer als vorher kann es nicht mehr werden.«

 

»Jetzt komm schon in die Hufe, Junge. Das Layout muss heute raus. Wenn du dich nicht beeilst, schaffen wir es nie rechtzeitig zur Feier.«

Sandie sah von seinem Computer auf, um seinem Kollegen Dieter einen kurzen Blick zuzuwerfen. Er war noch müde von dem langen Abend zuvor und hätte den Empfang nach der Arbeit am liebsten geschwänzt. Doch Frau Hahn hatte alle Mitarbeiter persönlich eingeladen und er fand keinen plausiblen Grund, um jetzt noch abzusagen.

»Ich hätte nichts dagegen, wenn ich hier so lange beschäftigt wäre, dass ich das ganze Getue verpasse«, grunzte er unwillig.

»So ein Unsinn«, widersprach Dieter. »Ich habe vorhin gesehen, welche Köstlichkeiten dafür angekarrt wurden. Das gibt ein Festessen, sage ich dir.« Er leckte sich genüsslich über die Lippen.

Sandie grinste. Dieter hatte sich besonders fein gemacht. Er trug eine graue Hose und ein schickes Sakko. Am Morgen war er sogar mit Krawatte erschienen, die er jedoch abgelegt hatte, als Sandie bei seinem Anblick laut herausgeprustet war. Er selbst hatte widerwillig Corinnas Drängen nachgegeben, wenigstens ein weißes Hemd anzuziehen. Die Leinenhose, die sie ihm herausgelegt hatte, hatte er allerdings verschmäht und sich stattdessen für eine schwarze Jeans entschieden. Es waren nun mal seine Lieblingshosen und bei der Arbeit am praktischsten. Er musste schon höllisch auf das weiße Hemd aufpassen. Feixend dachte er an Corinnas Gesichtsausdruck, als sie entdeckt hatte, dass er ein rotes T-Shirt darunter angezogen hatte. Er konnte von Glück sagen, dass sie ihm seine Klamotten nicht um die Ohren geschlagen hatte. Aber sie hatte keine Ruhe gegeben, bis er wenigstens das T-Shirt gegen ein weißes eingetauscht hatte.

Er schob sich von der Tischkante zurück. »Wir haben ja noch fast zwei Stunden Zeit«, beschwichtigte er seinen Kollegen. »Das reicht locker für das Layout. Ich hole mir erst mal einen Kaffee, sonst schlafe ich hier noch ein.«

Sandie machte sich auf den Weg zur Kantine, in der ständig frischer Kaffee für die Mitarbeiter bereitstand. Wie immer umfasste er die Ecksäule vor dem Eingang in den großen Raum mit der Hand und drehte sich mit Schwung um sie herum. Allerdings kam ihm dieses Mal jemand entgegen. Er sah nur einen vagen Schatten, war jedoch geistesgegenwärtig genug, seinen Rollstuhl mit einem schnellen Griff in die Greifräder zu stoppen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass eine schlanke, ihm unbekannte Frau fast auf seinem Schoß landete. Sie bewahrte in letzter Sekunde ihr Gleichgewicht, doch den Becher Kaffee, den sie in der Hand gehalten hatte, leerte sie dabei über seiner Brust aus. Er zuckte zurück, als der heiße Kaffee ihn traf und sah dann fassungslos auf sein so gehegtes, ehemals weißes Hemd.

»Können Sie nicht aufpassen?«, fuhr er die Frau an, die ihm gegenüberstand, obwohl er genau wusste, dass es seine Schuld gewesen war.

»Entschuldigung«, murmelte sie. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen, als wolle sie ihr Entsetzen verbergen, doch die Laute, die Sandie hörte, klangen eher wie ein Kichern. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus, und sie platzte laut heraus.

»Sehr witzig«, knurrte er und drehte sich um.

»Warten Sie, rennen Sie nicht davon.« Die Frau, die nach seiner Meinung etwa in seinem Alter sein musste, lief um ihn herum und stellte sich ihm in den Weg. »Es tut mir leid, dass ich lachen musste«, entschuldigte sie sich. »Aber Ihr Gesichtsausdruck war einfach zu komisch.« Sie wurde ernst. »Sie gehören doch hoffentlich nicht zu der Sorte Mensch, die schnell beleidigt ist, oder?«

Gegen seinen Willen musste Sandie lachen und sein Ärger verflog. Das freundliche, offene Gesicht der Frau war ihm sympathisch. Außerdem gab es nicht viele Leute, die sich trauten, im Zusammenhang mit ihm das Wort rennen zu benutzen. Das allein imponierte ihm schon. »Nicht wirklich«, gab er zu.

»Hervorragend.« Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen. »Ulla Hanke. Ich fange morgen hier offiziell als Sekretärin an.«

»Hanke?«, hakte Sandie nach, als er die gepflegte Hand schüttelte.

»Ja.« Sie lächelte. »Um die Frage vorwegzunehmen, die man mir inzwischen etwa zwanzig Mal gestellt hat, ja, ich bin mit Ihrem Chef verwandt. Er ist mein Schwager.«

Also doch Vetternwirtschaft, dachte Sandie, aber er konnte sein anzügliches Grinsen gerade noch zu einem freundlichen Lächeln umwandeln.

»Aha«, sagte er nur, als ihm einfiel, dass er sich ebenfalls vorstellen sollte. »Mein Name ist Alexander Wegener.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Frau Hanke erwiderte das Lächeln. »Was haben Sie denn jetzt vor?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, in dem Hemd können Sie doch nicht zu Frau Hahns Abschiedsfeier gehen.«

»Ein guter Grund, dem Fest fernzubleiben.«

»Kommt nicht in Frage.« Frau Hanke schüttelte energisch den Kopf. »Kommen Sie mit. Für mich ist ein kleines vorläufiges Büro eingerichtet worden. Ich wasche ihnen die Flecken schnell heraus, dann lassen wir das Hemd auf der Heizung trocknen und wenn ich mich nicht irre, hat Frau Hahn in ihrem unerschöpflichen Bestand sogar ein Bügeleisen.«

»Wundert mich nicht«, murmelte Sandie.

»Eine Chefsekretärin muss auf alles vorbereitet sein. Kommen Sie.«

Er folgte der Frau in einen Raum in der Nähe des Vorstandszimmers.

»Also, runter mit dem Hemd.«

Sandie gehorchte. Während er sein Hemd aufknöpfte, betrachtete er verstohlen die neue Chefsekretärin. Sie war sehr attraktiv. Das kurze dunkelbraune Haar trug sie in einer eleganten Dauerwelle, was ihr ein würdiges Aussehen verlieh, das allerdings durch ihre joviale und freundliche Art wieder zunichtegemacht wurde. Sie war mittelgroß, schlank und modisch gekleidet. An der rechten Hand trug sie einen Ehering und einen Vorsteckring mit zwei kleinen Saphiren, sowie ein zartes Goldkettchen.

»Sie sind also Alexander der Große.«

»Wer bin ich?« Sandie hielt in der Bewegung inne und sah die neue Kollegin erstaunt an. Wer um alles in der Welt hatte ihr gegenüber diesen uralten Spitznamen ausgegraben?

»Wissen Sie denn nicht, wie man Sie nennt? Ihr Ruf ist Ihnen schon vorausgeeilt.« Frau Hanke streckte die Hand nach dem Hemd aus und Sandie reichte es ihr gehorsam.

»Doch«, gab er zu. »Allerdings ist das eine Ewigkeit her.« Er hoffte, dass die neue Sekretärin den Namen tatsächlich seiner Größe von 1,90 Metern zuordnete, die man ihm sogar im Rollstuhl ansah, und ihr die wahren Hintergründe dieser Bezeichnung verborgen geblieben waren.

Sie sah ihn prüfend an. »Ihr T-Shirt hat ebenfalls etwas abbekommen. Soll ich das auch mitnehmen?«

»Nein, danke. Die Flecken sieht man ja unter dem Hemd nicht.« Es wäre ihm einfach zu peinlich gewesen, mit nacktem Oberkörper vor dieser attraktiven und resoluten Frau zu sitzen.

»Okay.« Sie nickte, während sie ein Papiertaschentuch aus ihrer Rocktasche zog. »Hier sind auch noch ein paar Spritzer. Darf ich?« Mit einer Selbstverständlichkeit, die Sandie erstaunte, wischte sie seinen Rollstuhl ab. »So, jetzt dürften alle Spuren unseres ersten Treffens beseitigt sein.« Sie lächelte. »Ab morgen steht eine Kaffeemaschine zu meiner Verfügung. Darf ich Sie mal zu einer Tasse einladen? Als Ausgleich für den, mit dem ich Sie getauft habe.«

»Es war ja eigentlich meine Schuld«, gab er zu. »Aber ich komme gern. Allerdings muss ich jetzt noch etwas arbeiten. Sonst bin ich zur Feier nicht fertig.«

»Das wäre schade.«

»Ja, das wäre es wirklich.« Sandie stellte fest, dass er sich plötzlich auf die Betriebsfeier freute. Vielleicht ergab sich dabei die Möglichkeit, diese Bekanntschaft zu vertiefen. Als Frau Hanke ihm die Hand reichte, elektrisierte ihn die Berührung. Tief verwirrt drückte er fester zu, als er beabsichtigt hatte und fühlte deutlich, wie zwischen ihnen ein Funke der Sympathie übersprang.

Sie öffnete ihm die Tür. »Ich bringe Ihnen nachher das Hemd vorbei.«

Sandie fühlte sich abrupt in die Realität zurückgeholt. »Ich kann es auch holen«, erwiderte er nüchtern. »Sie wissen doch gar nicht, wo mein Zimmer ist.«

»Werde ich schon finden. Es wird schließlich Zeit, dass ich mich hier im Haus auskenne.« Die sympathische Frau lachte. »Ich frage einfach nach dem großen Alexander.«

 

Frau Hahn saß auf einem Stuhl inmitten ihrer Kollegen und jammerte. Sie bedauerte es, dass Sie aus Altersgründen in den Ruhestand gehen musste und die Geschicke der Firma nicht mehr leiten konnte.

»Gut gesagt«, raunte Dieter Sandie zu. »Ohne sie hätte die Firma wirklich schon längst bankrott gemacht. Hoffentlich wacht die Neue auch so fürsorglich darüber, dass unser Boss beim Zeitungslesen nicht gestört wird. Wo ist sie überhaupt?«

»Da hinten beim Buffet.«

Dieter reckte den Hals, aber er konnte niemanden entdecken, auf den Sandies Beschreibung zutraf.

»Wo denn?«

»Mensch, du hast doch den besseren Blickwinkel als ich.« Sandie stemmte sich hoch und beugte sich zur Seite, damit er an einem voluminösen Kollegen vorbei sehen konnte. »Du hättest eben vorhin da sein sollen, als sie mir mein Hemd gebracht hat.« Er erhaschte einen kurzen Blick auf die neue Mitarbeiterin. »Komm, wir gehen hin«, schlug er Dieter dann vor. »Ich stelle dich vor.«

»Frau Hanke?«

Die Angesprochene drehte sich um. »Ja?« Als sie Sandie sah, lächelte sie freundlich. »Herr Wegener, Sie haben es also doch noch rechtzeitig geschafft.«

»Ich möchte Ihnen gern einen Kollegen vorstellen. Dieter Krämer.«

»Ah ja.« Frau Hanke gab Dieter die Hand. »Ich freue mich sehr.« Sie lächelte charmant. »Hoffentlich kann ich mir Ihren Namen merken, Herr Krämer. Ich bekam heute schon so viele Leute vorgestellt, dass mir der Kopf schwirrt.«

»Frau Hanke, haben Sie einen Moment Zeit?«, rief es von der Tür her.

»Ja, ich komme.« Sie nickte den Männern freundlich zu. »Sie entschuldigen mich bitte, ja?«

»Natürlich«, murmelte Dieter, dann wandte er sich an Sandie. »Eine klasse Frau.«

»Ja.« Sandie sah ihr nach. Sie wurde an der Tür von einem Mann erwartet, der ihr flüchtig die Hand auf den Rücken legte und sie hinaus schob. »War das nicht Lehmann aus der Buchhaltung?«, fragte er.

»Achim?« Dieter trat einen Schritt vor, doch die Tür hatte sich schon geschlossen. »Keine Ahnung, aber was sollte der von Frau Hanke wollen?«

»Weiß ich nicht. Es kam mir nur irgendwie komisch vor.«

Dieter lachte. »Hör bloß auf, Junge. Was soll da komisch sein? Komm, wir holen uns noch etwas zu trinken.« Er drehte sich noch einmal kurz zu der Tür um, durch die die neue Sekretärin gerade verschwunden war. »Ich möchte fast wetten, deinen Namen merkt sie sich«, meinte er.

»Meinen Namen kann sie auch mit einem besonderen Merkmal verknüpfen«, grinste Sandie ironisch, dann sah er seinen Kollegen spöttisch an. »Bei so einem Allerweltsgesicht wie deinem tut man sich da als Frau halt schwer.«

Dieter schnitt eine Grimasse. »Na, ganz ehrlich, ich bin auf dein besonderes Kennzeichen nicht so scharf. Da soll die werte Dame lieber dreimal nach meinem Namen fragen.« Er schlug Sandie freundschaftlich auf die Schulter. »Komm, wir mischen uns wieder unters Volk. Mal hören, welche mütterlichen Rat­schläge unser Hähnchen noch für uns hat.«

 

Es wurde spät. Sandie hatte sich vorgenommen, spätestens gegen neun Uhr zu verschwinden, doch dann war es zwei Stunden später, als er sich von Frau Hahn verabschiedete und ihr alles Gute wünschte.

Die ältere Dame brach beinahe in Tränen aus. So unbeugsam sie in früheren Zeiten ihren Arbeitgeber verteidigt und sogar beschützt hatte, so gerührt war sie an diesem Tag. Sandie fürchtete schon, sie würde seine Hand gar nicht mehr loslassen. Erst, als er ihr dreimal versprochen hatte, Corinna zu grüßen und gut auf sich aufzupassen, konnte er gehen.

Frau Hanke lächelte ihm zu. »Frau Hahn hat wohl einen Narren an Ihnen gefressen?«, meinte sie.

»Leider merke ich das heute zum ersten Mal. Wir beide haben schon einige Hahnenkämpfe ausgefochten.« Sandie lachte, als ihm sein unbewusstes Wortspiel aufging.

Auch Frau Hanke lachte. »Ich hoffe, wir werden auch gut miteinander auskommen. Ein bisschen Angst habe ich schon, ob ich als Nachfolgerin von Frau Hahn anerkannt werde.«

»Natürlich. Ich glaube nicht, dass Sie da Probleme bekommen werden.«

»Danke. Sie wissen gar nicht, was mir Ihr Zuspruch bedeutet. Ich erwarte Sie in den nächsten Tagen zum Kaffee im Chefsekretariat. Einverstanden?«

»Habe ich Ihnen ja schon versprochen. Und vielen Dank noch mal, dass Sie mein Hemd gerettet haben. Das erspart mir die Standpauke meiner Frau.«

»Gern geschehen.« Frau Hanke musterte ihn neugierig, sagte jedoch nichts mehr. Allerdings fühlte Sandie ihren Blick in seinem Rücken, bis er die Tür hinter sich schloss.